Lot Nr. 25 -


Ludwig Wittgenstein *


Ludwig Wittgenstein * - Klassische Moderne

(Wien 1889–1951 Cambridge)
Mädchenkopf, 1925–1928, Büste, dreidimensional, gebrannter Ton, H: 39,5 cm

Provenienz:
Sammlung Margarethe Stonborough-Wittgenstein (1882-1958), Wien
seitdem im Erbgang
Privatsammlung, Kärnten
Österreichische Sammlung

Der Mädchenkopf wurde vom Bundesdenkmalamt unter Denkmalschutz gestellt und ist daher für eine Ausfuhr gesperrt.

Auszug aus der Begründung des Bundesdenkmalamtes, 1010 Wien, im Oktober 2008

...
3. Wittgensteins Schaffen als Bildhauer und Architekt
Dass Ludwig Wittgenstein einen engen Bezug zur Malerei und zur bildenden Kunst im Allgemeinen hatte, beweisen seine Schriften, etwa die „Bemerkungen über die Farbe“, die eine intensive Auseinandersetzung mit Kunstwerken voraussetzen (vgl. R. Fleck, S.4). Seine aktive Betätigung als Bildhauer und Architekt fand in den Jahren 1925-1928 statt, nachdem er den „Brotberuf“ des Volkschullehrers aufgegeben und sich in sein kunst- und kulturfreundliches familiäres Milieu zurückgezogen hatte. Da Ludwig sich für ein mittelloses, „unprivilegiertes“ Leben entschieden und auf sein väterliches Erbe gänzlich verzichtet hatte, betrachteten es die älteren Schwestern als ihre Pflicht, den Jüngsten materiell zu versorgen. Außerdem waren die Schwestern nach den dramatischen Selbstmorden der drei älteren Brüder (Hans 1902, Rudi 1904 und Kurt 1918) in besonderer Weise besorgt um den nervlich überreizten Ludwig („Luki“, „Lukerle“), der schon als Kind depressive Störungen zeigte und als suizidgefährdet galt (Vgl. Prokop, S. 18). Das Verhältnis zwischen „Luki“ und den wesentlich stabileren und lebenstüchtigeren Schwestern war wohl ein enges, vertrauensvolles, aber keineswegs konfliktfreies, was sich gerade in ethischen und ästhetischen Belangen immer wieder äußerte. Ludwig hatte sich schon früh vom Ästhetizismus des fin-de-siècle gelöst und – wohl auch in symbolhafter Auflehnung gegen den übermächtigen Vater – für die strenge Formensprache Adolf Loos‘ begeistert, den er allerdings nach dem Weltkrieg als zu „versnobt“ ablehnte (vgl. U. Prokop, S. 92). Der Auftrag, für seine hoch gebildete und kunstsinnige Schwester Margaret eine Stadtvilla zu erbauen (zu „erdenken“), bedeutete somit für den jungen Philosophen eine willkommene Herausforderung auf dem Weg seiner beruflichen Neuorientierung. Der Bau wurde in Zusammenarbeit mit dem befreundeten Architekten Paul Engelmann, einem Loos-Schüler, nach dem ästhetischen Prinzipien Ludwigs ausgeführt, wobei die Innenausstattung beinahe als alleiniges Werk Ludwigs zu betrachten ist. Das Haus gilt seither in der österreichischen Kunstgeschichte als „Stein gewordene Logik“.
Haus und Tonskulpturen sind im Sinne des „Tractatus“ als Versuche zu verstehen, die ethisch-ästhetischen Prinzipien des Philosophen in konkrete Materie umzusetzen und der „richtigen“ („wahren“) Form visuelle Gestalt zu verleihen. In diesem Sinne sind beide Schöpfungen als unikale philosophische Machwerke zu beurteilen.


4. Die Mädchenbüste-Vorbild und Entstehungsprozess

Die gegenständliche Skulptur entstand in den Jahren 1925-28 in der Folge einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk des akademischen Bildhauers Michael Drobil, den Wittgenstein während seiner Kriegsgefangenschaft in Monte Cassino 1919 kennen gelernt hatte und dem er in den Folgejahren regelmäßig Atelierbesuche abstattete.
Michael Drobil (geb. 1877-gest. 1958 Wien) gilt als Vertreter einer neoklassizistischen Richtung, die in der Zeit der Ersten Republik in Österreich in fast allen Kunstbereichen dominierte und im urbanen Bereich eine besondere Blüte erlebte (vgl. R. Fleck, S. 8). Er hatte bei Edmund v. Hellmer (1850-1935 Wien) an der Wiener Akademie studiert und war Mitglied der Wiener Sezession, später (ab 1940) auch des Wiener Künstlerhauses. Als seine Hauptwerke gelten des Denkmal für den Arzt Theodor Billroth für das Allgemeine Krankenhaus Wien sowie ein Kriegerdenkmal für die Stadt Ried i. Innkreis. Bekannt ist allerdings auch die um 1925 geschaffene Büste von Ludwig Wittgenstein, die sich heute in New Yorker Privatbesitz befindet (vgl. I. Nierhaus, S. 244). Die mäzenatisch aktiven Schwestern Wittgensteins erwarben schließlich auch die in der Korrespondenz mehrfach erwähnte Skulptur „Der Sinnende“ von Michael Drobil, die im Treppenhaus des Familien-Wohnsitzes in der Wiener Alleegasse Aufstellung fand (I. Nierhaus, S. 244 u. 246). Die Freundschaft zwischen Wittgenstein und Drobil hatte zahlreiche „formalästhetische“ Debatten zur Folge, die den Philosophen schließlich dazu veranlassten, selbst künstlerisch tätig zu werden,-als „Glätter“ und „Klärer“, wie er es in seinen Briefen benannte.

Wittgenstein hatte einen streng analytischen Blick, was die künstlerische Formensprache anbelangt, und versuchte den menschlichen Körper als Kumulierung geometrischer Grundformen zu begreifen und zu gestalten, jedoch nicht im Sinne eines – etwa zeitgleich stattfindenden – kubistischen Prozess – sondern vielmehr als Ausdruck der „Einfachheit“ in Anlehnung an antike Schönheitsideale. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass jeder Körper letztlich auf Elementarformen zurückzuführen ist und die ästhetische Vollendung nur im Aufzeigen des Elementaren zu finden sei. Ludwig erklärte auch seiner künstlerisch dilettierenden Schwester Hermine („Mining“), dass bei Zeichnen letztlich nur die geometrischen Grundformen (Quadrat, Rechteck, Kugel, Kreis) „Richtigkeit“ und Schönheit besitzen könnten, und griff immer wieder korrigierend in ihre Skizzen ein.

Seine eigene bildhauerische Tätigkeit geschah ebenfalls in einem Prozess des Korrigierens („Glättens“), ausgehend von einer von Drobil geschaffenen ganzfigurigen Mädchendarstellung, der „Kauernden“, für die angeblich dessen Tochter Modell stand (Abbildung R. Fleck, S. 15, O. Nierhaus, S. 239). Wittgenstein beschränkte sich allerdings auf den Kopf und die Schulterpartie des Modells und vereinfachte die Kopfform nahezu auf die Form der Kugel, deren Drehung den eigentlichen Charakter des Kunstwerks bestimmt. Signifikant ist dabei das Verhältnis der Einzelformen zur gesamtform mit dem Bestreben, eine „ideale Syntax der Dinge zu finden“ (vgl. I. Nierhaus, S. 248) und sie in einen komplexen Zusammenhang zu stellen.
„Die Züge weisen dieselbe vollendete und ruhige Schönheit auf, wie man sie an den griechischen Statuen der klassischen Zeit findet und wie sie Wittgenstein Ideal entsprochen zu haben scheinen. Ganz allgemein besteht ein auffallender Gegensatz zwischen der Ruhelosigkeit, dem ständigen Suchen und Wechseln in Wittgensteins Leben und Persönlichkeit einerseits und der Vollkommenheit und Eleganz seiner vollendeten Werke andererseits“ (Zitat N. Malcolm, S. 24) Die Sehnsucht nach Beruhigung der Form dürfte aber auch einem Grundbedürfnis nach Abstrahierung entsprungen sein, wie es in den internationalen Kunstströmungen der 1920-er Jahre auftritt. Viel wichtiger als der kunsthistorische Vergleich oder eine konkrete Zuordnung ist aber der philosophische Anspruch der Skulptur, eine vollkommene („richtige“) Form zu realisieren.
Aus heutiger Sicht ist die Mädchenbüste Wittgensteins zweifellos mehr als eine „Korrektur“ der Mädchenfigur des Bildhauerfreundes, sie stellt einen Markstein in einem geistigen Schöpfungsprozess dar und leitet, wie R. Fleck nachweist, die Spätphilosphie Wittgensteins ein, die sich vorrangig mit dem Wesen und den Grenzen der Sprache befasst: „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden“, - ein bildnerisches Werk sagt mehr als tausend Worte. Interessant wäre auch eine vergleichende Analyse mit dem im „Tractatus logico philosophicus“ verwendeten Begriff des „skulpturalen Werkes“, den Walter Meissl in seiner 2004 erschienenen Diplomarbeit analysiert. Der Terminus „Wittgensteinskulptur“ ist in diesem Zusammenhang als ein philosophisches Gebilde, eine „Schöpfung“ zu verstehen.

Die gegenständliche Tonskulptur fand in der Korrespondenz Ludwig Wittgensteins mit seiner Familie uns seinem intellektuellen Freundeskreis wiederholt Erwähnung und wird auch in vielen einschlägigen Wittgenstein-Publikationen ausführlicher behandelt (vgl. Literaturverzeichnis). Sie verblieb über Jahrzehnte im Besitz von Margret Stonborough-Wittgenstein und ihrer Familie, ebenso ein etwa zeitgleich hergestellter Gipsabguss. Original und Abguss gelangten später in Kärntner bzw. Wiener Privatbesitz.

5. Die Mädchenbüste – Bedeutung als österreichisches Kulturgut
…Die Büste ist das einzige bildhauerische Werk Wittgensteins und das einzige nennenswerte Kunstwerk, das von einem Philosophen von Weltrang je geschaffen wurde. Sie ist keinesfalls als ein „Zufallsprodukt“ eines dilettierenden Philosophen zu sehen, sondern als „Materie gewordene Philosophie“, die eine verbindende Linie zwischen Ethik und Ästhetik zu postulieren versucht. Sie setzt die wissenschaftlich abgehandelten Forderungen nach einer „wahren“ und „richtigen“ Form in eine konkrete, sinnlich wahrnehmbare Gestalt um und vergegenständlicht somit das ideelle Konzept.
Darüber hinaus leitet die Mädchenbüste aber gewissermaßen auch die „beobachtungsreiche“ linquistische Philosophie ein, die Wittgenstein zum Kernbereich seines späteren Schaffens machte (vgl. N. Malcolm, S. 11), und stellt somit einen wesentlichen Markstein in seinem wissenschaftlichen Werdegang dar. …

Auszug aus der Literaturangabe:

Michael Nedo/Michele Ranchetti (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt 1983, S. 215 f., Abb. S. 216
Norman Malcolm: Erinnerungen an Wittgenstein. Mit einer biographischen Skizze von Georg Henrik von Wright und Wittgensteins Briefen an Norman Malcolm, 1. Aufl. Frankfurt 1987, S. 24
Michael Nedo: Ludwig Wittgenstein. Eine biographische Skizze. In: Ausstellungskatalog „Wittgenstein. Biographie. Philosophie. Praxis“ Wiener Secession 1989, S. 33 ff.
Irene Nierhaus: Der Kopf. Wittgenstein als „aufrichtiger“ Dilettant. In: Katalog op.cit., S. 238 ff mit ganzseitiger Abbildung
Hans Vollmer: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts. 1. Band A-D, Leipzig 1992, Michael Drobil, S. 595
Robert Fleck: was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden. Wittgensteins Mädchenkopf. Ritter Klagenfurt 1993 (mit Abbildung)

21.11.2017 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 109.239,-
Schätzwert:
EUR 40.000,- bis EUR 70.000,-

Ludwig Wittgenstein *


(Wien 1889–1951 Cambridge)
Mädchenkopf, 1925–1928, Büste, dreidimensional, gebrannter Ton, H: 39,5 cm

Provenienz:
Sammlung Margarethe Stonborough-Wittgenstein (1882-1958), Wien
seitdem im Erbgang
Privatsammlung, Kärnten
Österreichische Sammlung

Der Mädchenkopf wurde vom Bundesdenkmalamt unter Denkmalschutz gestellt und ist daher für eine Ausfuhr gesperrt.

Auszug aus der Begründung des Bundesdenkmalamtes, 1010 Wien, im Oktober 2008

...
3. Wittgensteins Schaffen als Bildhauer und Architekt
Dass Ludwig Wittgenstein einen engen Bezug zur Malerei und zur bildenden Kunst im Allgemeinen hatte, beweisen seine Schriften, etwa die „Bemerkungen über die Farbe“, die eine intensive Auseinandersetzung mit Kunstwerken voraussetzen (vgl. R. Fleck, S.4). Seine aktive Betätigung als Bildhauer und Architekt fand in den Jahren 1925-1928 statt, nachdem er den „Brotberuf“ des Volkschullehrers aufgegeben und sich in sein kunst- und kulturfreundliches familiäres Milieu zurückgezogen hatte. Da Ludwig sich für ein mittelloses, „unprivilegiertes“ Leben entschieden und auf sein väterliches Erbe gänzlich verzichtet hatte, betrachteten es die älteren Schwestern als ihre Pflicht, den Jüngsten materiell zu versorgen. Außerdem waren die Schwestern nach den dramatischen Selbstmorden der drei älteren Brüder (Hans 1902, Rudi 1904 und Kurt 1918) in besonderer Weise besorgt um den nervlich überreizten Ludwig („Luki“, „Lukerle“), der schon als Kind depressive Störungen zeigte und als suizidgefährdet galt (Vgl. Prokop, S. 18). Das Verhältnis zwischen „Luki“ und den wesentlich stabileren und lebenstüchtigeren Schwestern war wohl ein enges, vertrauensvolles, aber keineswegs konfliktfreies, was sich gerade in ethischen und ästhetischen Belangen immer wieder äußerte. Ludwig hatte sich schon früh vom Ästhetizismus des fin-de-siècle gelöst und – wohl auch in symbolhafter Auflehnung gegen den übermächtigen Vater – für die strenge Formensprache Adolf Loos‘ begeistert, den er allerdings nach dem Weltkrieg als zu „versnobt“ ablehnte (vgl. U. Prokop, S. 92). Der Auftrag, für seine hoch gebildete und kunstsinnige Schwester Margaret eine Stadtvilla zu erbauen (zu „erdenken“), bedeutete somit für den jungen Philosophen eine willkommene Herausforderung auf dem Weg seiner beruflichen Neuorientierung. Der Bau wurde in Zusammenarbeit mit dem befreundeten Architekten Paul Engelmann, einem Loos-Schüler, nach dem ästhetischen Prinzipien Ludwigs ausgeführt, wobei die Innenausstattung beinahe als alleiniges Werk Ludwigs zu betrachten ist. Das Haus gilt seither in der österreichischen Kunstgeschichte als „Stein gewordene Logik“.
Haus und Tonskulpturen sind im Sinne des „Tractatus“ als Versuche zu verstehen, die ethisch-ästhetischen Prinzipien des Philosophen in konkrete Materie umzusetzen und der „richtigen“ („wahren“) Form visuelle Gestalt zu verleihen. In diesem Sinne sind beide Schöpfungen als unikale philosophische Machwerke zu beurteilen.


4. Die Mädchenbüste-Vorbild und Entstehungsprozess

Die gegenständliche Skulptur entstand in den Jahren 1925-28 in der Folge einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk des akademischen Bildhauers Michael Drobil, den Wittgenstein während seiner Kriegsgefangenschaft in Monte Cassino 1919 kennen gelernt hatte und dem er in den Folgejahren regelmäßig Atelierbesuche abstattete.
Michael Drobil (geb. 1877-gest. 1958 Wien) gilt als Vertreter einer neoklassizistischen Richtung, die in der Zeit der Ersten Republik in Österreich in fast allen Kunstbereichen dominierte und im urbanen Bereich eine besondere Blüte erlebte (vgl. R. Fleck, S. 8). Er hatte bei Edmund v. Hellmer (1850-1935 Wien) an der Wiener Akademie studiert und war Mitglied der Wiener Sezession, später (ab 1940) auch des Wiener Künstlerhauses. Als seine Hauptwerke gelten des Denkmal für den Arzt Theodor Billroth für das Allgemeine Krankenhaus Wien sowie ein Kriegerdenkmal für die Stadt Ried i. Innkreis. Bekannt ist allerdings auch die um 1925 geschaffene Büste von Ludwig Wittgenstein, die sich heute in New Yorker Privatbesitz befindet (vgl. I. Nierhaus, S. 244). Die mäzenatisch aktiven Schwestern Wittgensteins erwarben schließlich auch die in der Korrespondenz mehrfach erwähnte Skulptur „Der Sinnende“ von Michael Drobil, die im Treppenhaus des Familien-Wohnsitzes in der Wiener Alleegasse Aufstellung fand (I. Nierhaus, S. 244 u. 246). Die Freundschaft zwischen Wittgenstein und Drobil hatte zahlreiche „formalästhetische“ Debatten zur Folge, die den Philosophen schließlich dazu veranlassten, selbst künstlerisch tätig zu werden,-als „Glätter“ und „Klärer“, wie er es in seinen Briefen benannte.

Wittgenstein hatte einen streng analytischen Blick, was die künstlerische Formensprache anbelangt, und versuchte den menschlichen Körper als Kumulierung geometrischer Grundformen zu begreifen und zu gestalten, jedoch nicht im Sinne eines – etwa zeitgleich stattfindenden – kubistischen Prozess – sondern vielmehr als Ausdruck der „Einfachheit“ in Anlehnung an antike Schönheitsideale. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass jeder Körper letztlich auf Elementarformen zurückzuführen ist und die ästhetische Vollendung nur im Aufzeigen des Elementaren zu finden sei. Ludwig erklärte auch seiner künstlerisch dilettierenden Schwester Hermine („Mining“), dass bei Zeichnen letztlich nur die geometrischen Grundformen (Quadrat, Rechteck, Kugel, Kreis) „Richtigkeit“ und Schönheit besitzen könnten, und griff immer wieder korrigierend in ihre Skizzen ein.

Seine eigene bildhauerische Tätigkeit geschah ebenfalls in einem Prozess des Korrigierens („Glättens“), ausgehend von einer von Drobil geschaffenen ganzfigurigen Mädchendarstellung, der „Kauernden“, für die angeblich dessen Tochter Modell stand (Abbildung R. Fleck, S. 15, O. Nierhaus, S. 239). Wittgenstein beschränkte sich allerdings auf den Kopf und die Schulterpartie des Modells und vereinfachte die Kopfform nahezu auf die Form der Kugel, deren Drehung den eigentlichen Charakter des Kunstwerks bestimmt. Signifikant ist dabei das Verhältnis der Einzelformen zur gesamtform mit dem Bestreben, eine „ideale Syntax der Dinge zu finden“ (vgl. I. Nierhaus, S. 248) und sie in einen komplexen Zusammenhang zu stellen.
„Die Züge weisen dieselbe vollendete und ruhige Schönheit auf, wie man sie an den griechischen Statuen der klassischen Zeit findet und wie sie Wittgenstein Ideal entsprochen zu haben scheinen. Ganz allgemein besteht ein auffallender Gegensatz zwischen der Ruhelosigkeit, dem ständigen Suchen und Wechseln in Wittgensteins Leben und Persönlichkeit einerseits und der Vollkommenheit und Eleganz seiner vollendeten Werke andererseits“ (Zitat N. Malcolm, S. 24) Die Sehnsucht nach Beruhigung der Form dürfte aber auch einem Grundbedürfnis nach Abstrahierung entsprungen sein, wie es in den internationalen Kunstströmungen der 1920-er Jahre auftritt. Viel wichtiger als der kunsthistorische Vergleich oder eine konkrete Zuordnung ist aber der philosophische Anspruch der Skulptur, eine vollkommene („richtige“) Form zu realisieren.
Aus heutiger Sicht ist die Mädchenbüste Wittgensteins zweifellos mehr als eine „Korrektur“ der Mädchenfigur des Bildhauerfreundes, sie stellt einen Markstein in einem geistigen Schöpfungsprozess dar und leitet, wie R. Fleck nachweist, die Spätphilosphie Wittgensteins ein, die sich vorrangig mit dem Wesen und den Grenzen der Sprache befasst: „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden“, - ein bildnerisches Werk sagt mehr als tausend Worte. Interessant wäre auch eine vergleichende Analyse mit dem im „Tractatus logico philosophicus“ verwendeten Begriff des „skulpturalen Werkes“, den Walter Meissl in seiner 2004 erschienenen Diplomarbeit analysiert. Der Terminus „Wittgensteinskulptur“ ist in diesem Zusammenhang als ein philosophisches Gebilde, eine „Schöpfung“ zu verstehen.

Die gegenständliche Tonskulptur fand in der Korrespondenz Ludwig Wittgensteins mit seiner Familie uns seinem intellektuellen Freundeskreis wiederholt Erwähnung und wird auch in vielen einschlägigen Wittgenstein-Publikationen ausführlicher behandelt (vgl. Literaturverzeichnis). Sie verblieb über Jahrzehnte im Besitz von Margret Stonborough-Wittgenstein und ihrer Familie, ebenso ein etwa zeitgleich hergestellter Gipsabguss. Original und Abguss gelangten später in Kärntner bzw. Wiener Privatbesitz.

5. Die Mädchenbüste – Bedeutung als österreichisches Kulturgut
…Die Büste ist das einzige bildhauerische Werk Wittgensteins und das einzige nennenswerte Kunstwerk, das von einem Philosophen von Weltrang je geschaffen wurde. Sie ist keinesfalls als ein „Zufallsprodukt“ eines dilettierenden Philosophen zu sehen, sondern als „Materie gewordene Philosophie“, die eine verbindende Linie zwischen Ethik und Ästhetik zu postulieren versucht. Sie setzt die wissenschaftlich abgehandelten Forderungen nach einer „wahren“ und „richtigen“ Form in eine konkrete, sinnlich wahrnehmbare Gestalt um und vergegenständlicht somit das ideelle Konzept.
Darüber hinaus leitet die Mädchenbüste aber gewissermaßen auch die „beobachtungsreiche“ linquistische Philosophie ein, die Wittgenstein zum Kernbereich seines späteren Schaffens machte (vgl. N. Malcolm, S. 11), und stellt somit einen wesentlichen Markstein in seinem wissenschaftlichen Werdegang dar. …

Auszug aus der Literaturangabe:

Michael Nedo/Michele Ranchetti (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein. Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt 1983, S. 215 f., Abb. S. 216
Norman Malcolm: Erinnerungen an Wittgenstein. Mit einer biographischen Skizze von Georg Henrik von Wright und Wittgensteins Briefen an Norman Malcolm, 1. Aufl. Frankfurt 1987, S. 24
Michael Nedo: Ludwig Wittgenstein. Eine biographische Skizze. In: Ausstellungskatalog „Wittgenstein. Biographie. Philosophie. Praxis“ Wiener Secession 1989, S. 33 ff.
Irene Nierhaus: Der Kopf. Wittgenstein als „aufrichtiger“ Dilettant. In: Katalog op.cit., S. 238 ff mit ganzseitiger Abbildung
Hans Vollmer: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts. 1. Band A-D, Leipzig 1992, Michael Drobil, S. 595
Robert Fleck: was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden. Wittgensteins Mädchenkopf. Ritter Klagenfurt 1993 (mit Abbildung)


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
kundendienst@dorotheum.at

+43 1 515 60 200
Auktion: Klassische Moderne
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 21.11.2017 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 11.11. - 21.11.2017


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer(für Lieferland Österreich)

Es können keine Kaufaufträge über Internet mehr abgegeben werden. Die Auktion befindet sich in Vorbereitung bzw. wurde bereits durchgeführt.