Lot Nr. 56


Artemisia Gentileschi


Artemisia Gentileschi - Alte Meister

(Rom 1593 - nach dem 31. Januar 1654 Neapel)
Lucretia
Öl auf Leinwand, 133 x 106 cm, gerahmt

Video: Artemisia Gentileschi "Lucretia"
Blog: Starke Frauen: Artemisia Gentileschi & Lucretia

 

 

Provenienz:
vermutlich Davide Imperiale, Neapel (1672);
vermutlich im Erbgang an Maria Caterina Imperiale Grimaldi, Marchesa di Petra;
vermutlich Giovanni Jatta (1767-1844), Neapel und Ruvo di Puglia;
Giovanni Francesco Gaetano Jatta (1832-1895), Ruvo di Puglia;
im Erbgang an den jetzigen Besitzer

Dokumentation:
vermutlich das im Inventarverzeichnis von Davide Imperiale aus dem Jahr 1672 erwähnte Gemälde, Archivio di Stato di Napoli, Notaio Domenico Cardamone, scheda 1221, prot. 32, fol. 34, Nr. 8: „Una lucretia della medesima [Artemisia Gentileschi], grande come la sudetta [alta cinque larga quattro]“ (siehe G. Labrot, Collections of Paintings in Naples, 1600-1780, München 1992, S. 118-119)

Literatur:
N. Spinosa, Artemisia Gentileschi e Onofrio Palumbo: insieme o ‘separati’?, in:
P. Di Loreto (Hg.), Una vita per la storia dell’arte. Scritti in onore di Maurizio Marini, Rom 2015, S. 386 und S. 387, Abb. 4;
N. Spinosa, in: Artemisia Gentileschi e il suo tempo, Ausstellungskatalog, Rom, Palazzo Braschi, 30. November 2016 - 7. Mai 2017, Mailand 2016, S. 64 und S. 65, Abb. 10
A. Grassi, Artemisia Gentileschi, Pisa-Ospedaletto 2017, S. 241-242, Abb. S. 240

Wir danken Riccardo Lattuada, der die Zuschreibung nach Untersuchung des vorliegenden Gemäldes im Original bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung.

Ebenso danken wir Wolfgang Prohaska, der die Zuschreibung nach Prüfung des Gemäldes im Original unabhängig davon bestätigt hat.

Das vorliegende Gemälde, welches nie zuvor öffentlich ausgestellt war, wurde von Nicola Spinosa sowohl 2015 als auch 2016, als er es im Katalog der Artemisia Gentileschi gewidmeten monografischen Ausstellung veröffentlichte (siehe Literatur), der Künstlerin zugeschrieben. Spinosa datierte das vorliegende Gemälde zunächst in die späten 1620er- oder frühen 1630er-Jahre, doch hat er seine Meinung kürzlich revidiert und das Werk der Zeit um 1640-1645 zugewiesen.

Riccardo Lattuada hat eine Datierung des vorliegenden Gemäldes um 1630-1635 vorgeschlagen und dies mit der eindrucksvollen Bildlösung und ihrer großen stilistischen Nähe zu Massimo Stanzione und Simon Vouet begründet, welche nach seinem Dafürhalten als herausragende Merkmale von Artemisias früher neapolitanischer Periode zu werten sind.

Die Darstellung zeichnet sich durch die meisterhafte Wiedergabe des Inkarnats in Verbindung mit dem Gewand in Weiß, Gelbgold und sattem Blau sowie durch die kraftvolle Form der sich dynamisch auf den rechten Rand des Bildraums zubewegenden Figur aus.

Das vorliegende Gemälde führte neue Motive in die neapolitanische Malschule ein: Artemisias Diagonalkomposition der Lucretia erinnert an die Lucretia Simon Vouets (heute Nationalgalerie, Prag, Abb. 1), mit dem die Künstlerin in Rom Kontakt hatte (siehe A. Brejon de Lavergnée, in: Artemisia Gentileschi e il suo tempo, Ausstellungskatalog, Mailand 2016, S. 194/195, Nr. 54). Das Gemälde Vouets war zudem durch einen Stich Claude Mellans verbreitet (Abb. 2; siehe Vouet, hg. von J. Thuillier, Ausstellungskatalog, Paris 1990, S. 66-68).

Das vorliegende Gemälde lässt sich auch mit Werken Massimo Stanziones desselben Bildthemas vergleichen, etwa mit dessen Lucretia in einer römischen Privatsammlung (siehe M. Di Dedda, in: Artemisia Gentileschi e il suo tempo, op. cit., S. 234/235, Nr. 73). Auch eine weitere Lucretia Stanziones, heute im Museo di Capodimonte, Neapel, teilt mit dem vorliegenden Gemälde gewisse Bildelemente, etwa die erlesene aristokratische Kleidung der Protagonistin (zur mit diesem Gemälde belegten wechselseitigen Beeinflussung Stanziones und Artemisias siehe J. M. Locker, Artemisia Gentileschi. The Language of Painting, New Haven-London 2015, S. 121, Abb. 4.12, S. 210, Nr. 121). Nach Artemisias vorliegender Lucretia schuf Stanzione ein weiteres Werk dieses Bildthemas, das sich heute in der Galleria Durazzo Pallavicini, Genua, befindet (Abb. 3). Kompositorisch steht es dem vorliegenden Bild sehr nahe; ein Pendant mit der Darstellung der Kleopatra wird in derselben Sammlung verwahrt (Abb. 4).

Nach ihrer Ankunft in Neapel bereicherte Artemisia den Einfluss Stanziones um ihre eigene starke Persönlichkeit und ihre zuvor in Rom gesammelten Erfahrungen. Eine weitere Inspirationsquelle für die dramatische Pose der vorliegenden Lucretia ist in Skulpturen der Antike zu sehen, die man damals in Rom bewundern konnte, beispielsweise die Figur der Psyche (heute Uffizien, Florenz) oder die Niobide Chiaramonti in den Vatikanischen Museen in Rom.

Im vorliegenden Gemälde sollte die Pose die theatralische Geste der edlen Römerin hervorheben, die mit dem Arm ausholt, um sich mit einem Dolchstich zu töten; die Augen sind himmelwärts gerichtet, als würde sie um Kraft für ihre letzte Handlung bitten.

Die junge Artemisia hatte Lucretias Selbstmord bereits zuvor dargestellt, in einem Gemälde, das sich ehemals im Palazzo Cattaneo-Adorno, Genua, befand und heute zur Sammlung Etro, Mailand, gehört (siehe J. M. Locker, Artemisia Gentileschi. The Language of Painting, op. cit., S. 46/47, Abb. 2.1). Im Vergleich zu diesem Werk lässt die vorliegende Lucretia mit der Eleganz und Dramatik ihres noblen Gestus den Reifestil Artemisias erkennen, die zu einer versierten, erfolgreichen und selbstsicheren Künstlerin geworden war. Das ausdrucksstarke Bild der römischen Heldin verrät mit der ungestümen Bewegung, die eine Drehung des Körpers bedingt, eine Erfindungsgabe, welche für das Genie der Künstlerin spricht. Auch wenn sie unter dem künstlerischen Eindruck unterschiedlicher neapolitanischer und römischer Einflüsse stand, stellt Artemisia hier unter Beweis, dass sie in der Lage war, das Bildthema neu anzulegen und es in einer vollkommen eigenständigen Art und Weise umzusetzen.

Die sagenumwobene Lucretia war die tugendhafte Frau des Edelmanns Lucius Tarquinius Collatinus. Nachdem Sextus Tarquinius sie geschändet hatte, rief sie ihren Vater und ihren Ehemann zur Rache auf und erstach sich dann selbst. Ihre tragische Handlung hatte einen Aufstand zur Folge, der die Tarquinier aus Rom vertrieb und die Begründung der römischen Republik ermöglichte. Das Thema der Lucretia handelt von Gewalt gegen Frauen und vom Sieg über das Erlittene. Niemand hatte mehr Anrecht als Artemisia, sich damit auf eine so eindrucksvolle Art und Weise auseinanderzusetzen, die uns immer noch Bewunderung abringt, wobei die Dramatik des vorliegenden Bildes auf der eigenen Gewalterfahrung der Künstlerin und deren Folgen resultierte.

Für eine Künstlerin war die Darstellung weiblicher Aktfiguren ungewöhnlich. Doch die ambitionierte Artemisia, die von Beginn an die Laufbahn einer Historienmalerin anstrebte, trat durch die Wiedergabe bewegter und zuweilen erotisch aufgeladener Frauenfiguren hervor, aus denen Stärke und Überlegenheit spricht. Bei Werken wie dem vorliegenden handelt es sich mitunter um Selbstporträts, für die Artemisia sich selbst Modell stand und die ihre Begabung, ihren Ehrgeiz und ihren Mut zu erkennen geben. Ihr Werkkorpus erscheint zeitlos und gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Die in Rom gebürtige Artemisia was das älteste Kind und die einzige Tochter des toskanischen Malers Orazio Gentileschi (1563-1639), in dessen Werkstatt sie zur Künstlerin ausgebildet wurde. Er war sich des Talents Artemisias bewusst und zeigte sich stolz auf ihre Leistungen. In einem Brief an die Großherzogin der Toskana Maria Magdalena von Österreich aus dem Jahr 1612 - Artemisia war 18 Jahre alt - brüstet sich Orazio mit den Gaben seiner Tochter: „havendola drizzata nella professione di pittura, in tre anni si è talmente appraticata, che posso ardire de dire che hoggi non ci sia pare a lei, havendo per sin adesso fatte opere, che forse principali mastri di questa professione non arrivano al suo sapere…“ [„während des Studiums der Malerei hat sie in drei Jahren eine solche Fertigkeit erlangt, dass ich sagen kann, es kommt niemand an sie heran, wobei sie Werke geschaffen hat, die womöglich nicht einmal die bedeutendsten Meister dieser Profession zustande bringen …“] (siehe M. D. Garrard, Artemisia Gentileschi, Princeton 1989, S. 490/491, Anm. 3, 11).

Schon Artemisias erste Gemälde verraten aufgrund der technischen Fertigkeiten der Malerin, ihres Einfallsreichtums und ihrer künstlerischen Ausbildung in Rom eine frühreife künstlerische Begabung. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts durchlief die Stadt eine Zeit großer Betriebsamkeit und Veränderung, wobei die damit einhergehende architektonische Erweiterung eine Unzahl gemalter Ausstattungen von Palästen und Kirchen bedingte, etwa die Fresken der Carracci im Palazzo Farnese, die Fresken Guido Renis und Domenichinos im Oratorium von Sant’Andrea al Celio oder die Malereien Caravaggios in San Luigi dei Francesi und Santa Maria del Popolo.

Artemisias Frühwerk stand maßgeblich unter dem Eindruck Caravaggios, eines Malerkollegen ihres Vaters, doch vermittelt über Orazios Zugang zur Bildsprache des Lombarden. Artemisias Farbigkeit und Details der Gewandgestaltung verweisen auf Orazios Einfluss. Wie ihr Vater erwies sie sich als geschickt bei der Wiedergabe von Oberflächentexturen und Lichtreflexen. Sie zeigte sich sicher im Umgang mit einem dramatischen Erzählmodus, und schon ihre frühesten Gemälde lassen erkennen, dass sie eine unabhängige Künstlerpersönlichkeit war. Ihr erstes datiertes Gemälde, Susanna und die Alten, ist auch signiert und stammt aus dem Jahr 1610 (Sammlung Graf Schönborn, Pommersfelden, Schloss Weissenstein), als die Künstlerin 17 Jahre alt war. Die außergewöhnliche Komposition beschäftigt sich mit zwei Themen, die der Künstlerin ihre gesamte Laufbahn hindurch ein Anliegen waren und die auch im vorliegenden Gemälde behandelt werden: Heldinnen und der weibliche Akt.

Die tragische Vergewaltigung Artemisias durch den Maler Agostino Tassi ereignete sich 1611 und führte 1612 zu einem schmachvollen Gerichtsverfahren, das Orazio Gentileschi gegen seinen Kollegen und Freund angestrengt hatte. Im selben Jahr heiratete Artemisia und zog Anfang 1613 nach Florenz, wo sie beachtliche Erfolge feierte. Sie genoss die Gunst der Familie Medici und wurde 1616 als erste Künstlerin in die Accademia del Disegno aufgenommen. 1620 ließ sie sich mit ihrer Familie in Rom nieder, wo sie ihre Karriere vorantrieb und einige der bedeutendsten Künstler dieser Zeit kennenlernte, darunter Simon Vouet. Seine Freundschaft und Wertschätzung Artemisias als Malerin beweist sein berühmtes Bildnis der Artemisia Gentileschi (Privatsammlung, Abb. 5), auf dem sie mit einer Palette und Pinseln dargestellt ist.

In Rom verkehrte Artemisia im Kreis der für die Familie Barberini tätigen Künstler. Sie war mit dem Gelehrten und Sammler Cassiano Dal Pozzo bekannt, ihrem wichtigsten Auftraggeber und Mäzen in der Stadt. Danach zog Artemisia nach Venedig, 1630 befand sie sich in Neapel, wo sie abgesehen von einer Reise nach London, wo sie ihren Vater Orazio besuchte (er war 1626 zum Hofmaler Königin Henriettas ernannt worden), bis zu ihrem Lebensende blieb. Im frühen 17. Jahrhundert war Neapel die größte Stadt Südeuropas und ein wichtiges Kunstzentrum, das zahlreiche Künstler anzog, die sich dort Möglichkeiten und Erfolg erhofften. Die spanischen Vizekönige, kirchliche Orden und Händler aus Hafenstädten in ganz Europa waren engagierte Förderer der Künste. Als Artemisia in Neapel ankam, arbeitete sie unter dem Schutz Massimo Stanziones, der ihr zu prestigeträchtigen Auftraggebern am spanischen Hof verhalf. Für seinen Zyklus zur Lebensgeschichte des heiligen Johannes des Täufers für die Kapelle von Buen Retiro in Madrid lieferte Stanzione die Mehrzahl der Gemälde, doch vertraute er Artemisia die Ausführung eines Werkes an, welches die Geburt des Täufers darstellt (siehe R. Lattuada, Unknown Paintings by Artemisia in Naples and New Points Regarding Her Daily Life and Bottega, in: Artemisia Gentileschi in a Changing Light, Turnhout 2017, S. 187-216, insb. S. 187-191).

Auch in den folgenden Jahren trat Artemisia als Malerin von Frauenakten hervor; sie schuf mehrere Fassungen von Werken mit Frauendarstellungen, darunter Bathsheba und Susanna. Ihre Gemälde waren beliebt und stark nachgefragt. In der Spätzeit arbeitete sie mit bekannten neapolitanischen Malern zusammen, um dieser großen Nachfrage nachzukommen. In den 1630er-Jahren erhielt sie ihren ersten öffentlichen Auftrag von drei Gemälden für den Chor der Kathedrale von Pozzuoli, an dessen Ausstattung mehrere Künstler arbeiteten.Provenienz:
Das vorliegende Gemälde der Lucretia kann höchstwahrscheinlich als jenes Werk identifiziert werden, das sich einst in der neapolitanischen Sammlung des Genueser Bankiers Davide Imperiale befand. Die Maße sind nahezu deckungsgleich mit jenen eines in dessen im Juni 1672 erstellten Inventarverzeichnis registrierten Bildes (zusammen mit einem weiteren Gemälde Artemisias einer Maria Magdalena): fünf mal vier neapolitanische Palmi (ein neapolitanischer Palmo = 26,4 cm, somit 132 x 105,6 cm; siehe G. Labrot, Collections of Paintings in Naples, 1600-1780, München 1992, S. 119, Nr. 8; R. Ward Bissell, Artemisia Gentileschi and the Authority of Art, University Park 1999, S. 373/374, L-52; Y. Primarosa, Tableaux d’Artemisia dans les collections européennes, 1612-1723, in: Artemisia 1593-1654, Ausstellungskatalog, Paris 2012, S. 243).

Imperiale gehörte dem Familienzweig der Francavilla und Massafra an, die Besitztümer in Apulien hatten. Seine Sammlung umfasste Werke von Genueser Künstlern wie Luca Cambiaso sowie größtenteils von neapolitanischen Künstlern wie Battistello Caracciolo und Micco Spadaro. Bei Artemisia Gentileschi muss es sich um die Lieblingskünstlerin des Sammlers gehandelt haben, da die meisten in seinem Inventar auftauchenden Werke von ihrer Hand stammen. Imperiale vererbte seinen Besitz an seine Schwester Maria Caterina Imperiale Grimaldi, Marchesa di Petra.

Während des 19. Jahrhunderts gelangte das Gemälde der Lucretia in die Sammlung der Familia Jatta aus Ruvo di Puglia. Giovanni Jatta (1767-1844) trug eine wichtige archäologische Sammlung antiker griechischer Vasen zusammen (siehe G. Andreassi, Jatta di Ruvo. La famiglia, la collezione, il museo nazionale, Bari 1996). Er erwarb das vorliegende Gemälde vermutlich in Neapel. Im Familienarchiv befinden sich mehrere mit der Sammlung in Verbindung stehende Urkunden, die auf „belle donne nude con pugnale“ [„schöne nackte Frauen mit Dolch“] verweisen. In der Auktion wird auch ein weiteres Gemälde der Lucretia aus derselben Sammlung von der Künstlerin Diana de Rosa angeboten (siehe Lot 58).

23.10.2018 - 18:00

Erzielter Preis: **
EUR 1.885.000,-
Schätzwert:
EUR 500.000,- bis EUR 700.000,-

Artemisia Gentileschi


(Rom 1593 - nach dem 31. Januar 1654 Neapel)
Lucretia
Öl auf Leinwand, 133 x 106 cm, gerahmt

Video: Artemisia Gentileschi "Lucretia"
Blog: Starke Frauen: Artemisia Gentileschi & Lucretia

 

 

Provenienz:
vermutlich Davide Imperiale, Neapel (1672);
vermutlich im Erbgang an Maria Caterina Imperiale Grimaldi, Marchesa di Petra;
vermutlich Giovanni Jatta (1767-1844), Neapel und Ruvo di Puglia;
Giovanni Francesco Gaetano Jatta (1832-1895), Ruvo di Puglia;
im Erbgang an den jetzigen Besitzer

Dokumentation:
vermutlich das im Inventarverzeichnis von Davide Imperiale aus dem Jahr 1672 erwähnte Gemälde, Archivio di Stato di Napoli, Notaio Domenico Cardamone, scheda 1221, prot. 32, fol. 34, Nr. 8: „Una lucretia della medesima [Artemisia Gentileschi], grande come la sudetta [alta cinque larga quattro]“ (siehe G. Labrot, Collections of Paintings in Naples, 1600-1780, München 1992, S. 118-119)

Literatur:
N. Spinosa, Artemisia Gentileschi e Onofrio Palumbo: insieme o ‘separati’?, in:
P. Di Loreto (Hg.), Una vita per la storia dell’arte. Scritti in onore di Maurizio Marini, Rom 2015, S. 386 und S. 387, Abb. 4;
N. Spinosa, in: Artemisia Gentileschi e il suo tempo, Ausstellungskatalog, Rom, Palazzo Braschi, 30. November 2016 - 7. Mai 2017, Mailand 2016, S. 64 und S. 65, Abb. 10
A. Grassi, Artemisia Gentileschi, Pisa-Ospedaletto 2017, S. 241-242, Abb. S. 240

Wir danken Riccardo Lattuada, der die Zuschreibung nach Untersuchung des vorliegenden Gemäldes im Original bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung.

Ebenso danken wir Wolfgang Prohaska, der die Zuschreibung nach Prüfung des Gemäldes im Original unabhängig davon bestätigt hat.

Das vorliegende Gemälde, welches nie zuvor öffentlich ausgestellt war, wurde von Nicola Spinosa sowohl 2015 als auch 2016, als er es im Katalog der Artemisia Gentileschi gewidmeten monografischen Ausstellung veröffentlichte (siehe Literatur), der Künstlerin zugeschrieben. Spinosa datierte das vorliegende Gemälde zunächst in die späten 1620er- oder frühen 1630er-Jahre, doch hat er seine Meinung kürzlich revidiert und das Werk der Zeit um 1640-1645 zugewiesen.

Riccardo Lattuada hat eine Datierung des vorliegenden Gemäldes um 1630-1635 vorgeschlagen und dies mit der eindrucksvollen Bildlösung und ihrer großen stilistischen Nähe zu Massimo Stanzione und Simon Vouet begründet, welche nach seinem Dafürhalten als herausragende Merkmale von Artemisias früher neapolitanischer Periode zu werten sind.

Die Darstellung zeichnet sich durch die meisterhafte Wiedergabe des Inkarnats in Verbindung mit dem Gewand in Weiß, Gelbgold und sattem Blau sowie durch die kraftvolle Form der sich dynamisch auf den rechten Rand des Bildraums zubewegenden Figur aus.

Das vorliegende Gemälde führte neue Motive in die neapolitanische Malschule ein: Artemisias Diagonalkomposition der Lucretia erinnert an die Lucretia Simon Vouets (heute Nationalgalerie, Prag, Abb. 1), mit dem die Künstlerin in Rom Kontakt hatte (siehe A. Brejon de Lavergnée, in: Artemisia Gentileschi e il suo tempo, Ausstellungskatalog, Mailand 2016, S. 194/195, Nr. 54). Das Gemälde Vouets war zudem durch einen Stich Claude Mellans verbreitet (Abb. 2; siehe Vouet, hg. von J. Thuillier, Ausstellungskatalog, Paris 1990, S. 66-68).

Das vorliegende Gemälde lässt sich auch mit Werken Massimo Stanziones desselben Bildthemas vergleichen, etwa mit dessen Lucretia in einer römischen Privatsammlung (siehe M. Di Dedda, in: Artemisia Gentileschi e il suo tempo, op. cit., S. 234/235, Nr. 73). Auch eine weitere Lucretia Stanziones, heute im Museo di Capodimonte, Neapel, teilt mit dem vorliegenden Gemälde gewisse Bildelemente, etwa die erlesene aristokratische Kleidung der Protagonistin (zur mit diesem Gemälde belegten wechselseitigen Beeinflussung Stanziones und Artemisias siehe J. M. Locker, Artemisia Gentileschi. The Language of Painting, New Haven-London 2015, S. 121, Abb. 4.12, S. 210, Nr. 121). Nach Artemisias vorliegender Lucretia schuf Stanzione ein weiteres Werk dieses Bildthemas, das sich heute in der Galleria Durazzo Pallavicini, Genua, befindet (Abb. 3). Kompositorisch steht es dem vorliegenden Bild sehr nahe; ein Pendant mit der Darstellung der Kleopatra wird in derselben Sammlung verwahrt (Abb. 4).

Nach ihrer Ankunft in Neapel bereicherte Artemisia den Einfluss Stanziones um ihre eigene starke Persönlichkeit und ihre zuvor in Rom gesammelten Erfahrungen. Eine weitere Inspirationsquelle für die dramatische Pose der vorliegenden Lucretia ist in Skulpturen der Antike zu sehen, die man damals in Rom bewundern konnte, beispielsweise die Figur der Psyche (heute Uffizien, Florenz) oder die Niobide Chiaramonti in den Vatikanischen Museen in Rom.

Im vorliegenden Gemälde sollte die Pose die theatralische Geste der edlen Römerin hervorheben, die mit dem Arm ausholt, um sich mit einem Dolchstich zu töten; die Augen sind himmelwärts gerichtet, als würde sie um Kraft für ihre letzte Handlung bitten.

Die junge Artemisia hatte Lucretias Selbstmord bereits zuvor dargestellt, in einem Gemälde, das sich ehemals im Palazzo Cattaneo-Adorno, Genua, befand und heute zur Sammlung Etro, Mailand, gehört (siehe J. M. Locker, Artemisia Gentileschi. The Language of Painting, op. cit., S. 46/47, Abb. 2.1). Im Vergleich zu diesem Werk lässt die vorliegende Lucretia mit der Eleganz und Dramatik ihres noblen Gestus den Reifestil Artemisias erkennen, die zu einer versierten, erfolgreichen und selbstsicheren Künstlerin geworden war. Das ausdrucksstarke Bild der römischen Heldin verrät mit der ungestümen Bewegung, die eine Drehung des Körpers bedingt, eine Erfindungsgabe, welche für das Genie der Künstlerin spricht. Auch wenn sie unter dem künstlerischen Eindruck unterschiedlicher neapolitanischer und römischer Einflüsse stand, stellt Artemisia hier unter Beweis, dass sie in der Lage war, das Bildthema neu anzulegen und es in einer vollkommen eigenständigen Art und Weise umzusetzen.

Die sagenumwobene Lucretia war die tugendhafte Frau des Edelmanns Lucius Tarquinius Collatinus. Nachdem Sextus Tarquinius sie geschändet hatte, rief sie ihren Vater und ihren Ehemann zur Rache auf und erstach sich dann selbst. Ihre tragische Handlung hatte einen Aufstand zur Folge, der die Tarquinier aus Rom vertrieb und die Begründung der römischen Republik ermöglichte. Das Thema der Lucretia handelt von Gewalt gegen Frauen und vom Sieg über das Erlittene. Niemand hatte mehr Anrecht als Artemisia, sich damit auf eine so eindrucksvolle Art und Weise auseinanderzusetzen, die uns immer noch Bewunderung abringt, wobei die Dramatik des vorliegenden Bildes auf der eigenen Gewalterfahrung der Künstlerin und deren Folgen resultierte.

Für eine Künstlerin war die Darstellung weiblicher Aktfiguren ungewöhnlich. Doch die ambitionierte Artemisia, die von Beginn an die Laufbahn einer Historienmalerin anstrebte, trat durch die Wiedergabe bewegter und zuweilen erotisch aufgeladener Frauenfiguren hervor, aus denen Stärke und Überlegenheit spricht. Bei Werken wie dem vorliegenden handelt es sich mitunter um Selbstporträts, für die Artemisia sich selbst Modell stand und die ihre Begabung, ihren Ehrgeiz und ihren Mut zu erkennen geben. Ihr Werkkorpus erscheint zeitlos und gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Die in Rom gebürtige Artemisia was das älteste Kind und die einzige Tochter des toskanischen Malers Orazio Gentileschi (1563-1639), in dessen Werkstatt sie zur Künstlerin ausgebildet wurde. Er war sich des Talents Artemisias bewusst und zeigte sich stolz auf ihre Leistungen. In einem Brief an die Großherzogin der Toskana Maria Magdalena von Österreich aus dem Jahr 1612 - Artemisia war 18 Jahre alt - brüstet sich Orazio mit den Gaben seiner Tochter: „havendola drizzata nella professione di pittura, in tre anni si è talmente appraticata, che posso ardire de dire che hoggi non ci sia pare a lei, havendo per sin adesso fatte opere, che forse principali mastri di questa professione non arrivano al suo sapere…“ [„während des Studiums der Malerei hat sie in drei Jahren eine solche Fertigkeit erlangt, dass ich sagen kann, es kommt niemand an sie heran, wobei sie Werke geschaffen hat, die womöglich nicht einmal die bedeutendsten Meister dieser Profession zustande bringen …“] (siehe M. D. Garrard, Artemisia Gentileschi, Princeton 1989, S. 490/491, Anm. 3, 11).

Schon Artemisias erste Gemälde verraten aufgrund der technischen Fertigkeiten der Malerin, ihres Einfallsreichtums und ihrer künstlerischen Ausbildung in Rom eine frühreife künstlerische Begabung. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts durchlief die Stadt eine Zeit großer Betriebsamkeit und Veränderung, wobei die damit einhergehende architektonische Erweiterung eine Unzahl gemalter Ausstattungen von Palästen und Kirchen bedingte, etwa die Fresken der Carracci im Palazzo Farnese, die Fresken Guido Renis und Domenichinos im Oratorium von Sant’Andrea al Celio oder die Malereien Caravaggios in San Luigi dei Francesi und Santa Maria del Popolo.

Artemisias Frühwerk stand maßgeblich unter dem Eindruck Caravaggios, eines Malerkollegen ihres Vaters, doch vermittelt über Orazios Zugang zur Bildsprache des Lombarden. Artemisias Farbigkeit und Details der Gewandgestaltung verweisen auf Orazios Einfluss. Wie ihr Vater erwies sie sich als geschickt bei der Wiedergabe von Oberflächentexturen und Lichtreflexen. Sie zeigte sich sicher im Umgang mit einem dramatischen Erzählmodus, und schon ihre frühesten Gemälde lassen erkennen, dass sie eine unabhängige Künstlerpersönlichkeit war. Ihr erstes datiertes Gemälde, Susanna und die Alten, ist auch signiert und stammt aus dem Jahr 1610 (Sammlung Graf Schönborn, Pommersfelden, Schloss Weissenstein), als die Künstlerin 17 Jahre alt war. Die außergewöhnliche Komposition beschäftigt sich mit zwei Themen, die der Künstlerin ihre gesamte Laufbahn hindurch ein Anliegen waren und die auch im vorliegenden Gemälde behandelt werden: Heldinnen und der weibliche Akt.

Die tragische Vergewaltigung Artemisias durch den Maler Agostino Tassi ereignete sich 1611 und führte 1612 zu einem schmachvollen Gerichtsverfahren, das Orazio Gentileschi gegen seinen Kollegen und Freund angestrengt hatte. Im selben Jahr heiratete Artemisia und zog Anfang 1613 nach Florenz, wo sie beachtliche Erfolge feierte. Sie genoss die Gunst der Familie Medici und wurde 1616 als erste Künstlerin in die Accademia del Disegno aufgenommen. 1620 ließ sie sich mit ihrer Familie in Rom nieder, wo sie ihre Karriere vorantrieb und einige der bedeutendsten Künstler dieser Zeit kennenlernte, darunter Simon Vouet. Seine Freundschaft und Wertschätzung Artemisias als Malerin beweist sein berühmtes Bildnis der Artemisia Gentileschi (Privatsammlung, Abb. 5), auf dem sie mit einer Palette und Pinseln dargestellt ist.

In Rom verkehrte Artemisia im Kreis der für die Familie Barberini tätigen Künstler. Sie war mit dem Gelehrten und Sammler Cassiano Dal Pozzo bekannt, ihrem wichtigsten Auftraggeber und Mäzen in der Stadt. Danach zog Artemisia nach Venedig, 1630 befand sie sich in Neapel, wo sie abgesehen von einer Reise nach London, wo sie ihren Vater Orazio besuchte (er war 1626 zum Hofmaler Königin Henriettas ernannt worden), bis zu ihrem Lebensende blieb. Im frühen 17. Jahrhundert war Neapel die größte Stadt Südeuropas und ein wichtiges Kunstzentrum, das zahlreiche Künstler anzog, die sich dort Möglichkeiten und Erfolg erhofften. Die spanischen Vizekönige, kirchliche Orden und Händler aus Hafenstädten in ganz Europa waren engagierte Förderer der Künste. Als Artemisia in Neapel ankam, arbeitete sie unter dem Schutz Massimo Stanziones, der ihr zu prestigeträchtigen Auftraggebern am spanischen Hof verhalf. Für seinen Zyklus zur Lebensgeschichte des heiligen Johannes des Täufers für die Kapelle von Buen Retiro in Madrid lieferte Stanzione die Mehrzahl der Gemälde, doch vertraute er Artemisia die Ausführung eines Werkes an, welches die Geburt des Täufers darstellt (siehe R. Lattuada, Unknown Paintings by Artemisia in Naples and New Points Regarding Her Daily Life and Bottega, in: Artemisia Gentileschi in a Changing Light, Turnhout 2017, S. 187-216, insb. S. 187-191).

Auch in den folgenden Jahren trat Artemisia als Malerin von Frauenakten hervor; sie schuf mehrere Fassungen von Werken mit Frauendarstellungen, darunter Bathsheba und Susanna. Ihre Gemälde waren beliebt und stark nachgefragt. In der Spätzeit arbeitete sie mit bekannten neapolitanischen Malern zusammen, um dieser großen Nachfrage nachzukommen. In den 1630er-Jahren erhielt sie ihren ersten öffentlichen Auftrag von drei Gemälden für den Chor der Kathedrale von Pozzuoli, an dessen Ausstattung mehrere Künstler arbeiteten.Provenienz:
Das vorliegende Gemälde der Lucretia kann höchstwahrscheinlich als jenes Werk identifiziert werden, das sich einst in der neapolitanischen Sammlung des Genueser Bankiers Davide Imperiale befand. Die Maße sind nahezu deckungsgleich mit jenen eines in dessen im Juni 1672 erstellten Inventarverzeichnis registrierten Bildes (zusammen mit einem weiteren Gemälde Artemisias einer Maria Magdalena): fünf mal vier neapolitanische Palmi (ein neapolitanischer Palmo = 26,4 cm, somit 132 x 105,6 cm; siehe G. Labrot, Collections of Paintings in Naples, 1600-1780, München 1992, S. 119, Nr. 8; R. Ward Bissell, Artemisia Gentileschi and the Authority of Art, University Park 1999, S. 373/374, L-52; Y. Primarosa, Tableaux d’Artemisia dans les collections européennes, 1612-1723, in: Artemisia 1593-1654, Ausstellungskatalog, Paris 2012, S. 243).

Imperiale gehörte dem Familienzweig der Francavilla und Massafra an, die Besitztümer in Apulien hatten. Seine Sammlung umfasste Werke von Genueser Künstlern wie Luca Cambiaso sowie größtenteils von neapolitanischen Künstlern wie Battistello Caracciolo und Micco Spadaro. Bei Artemisia Gentileschi muss es sich um die Lieblingskünstlerin des Sammlers gehandelt haben, da die meisten in seinem Inventar auftauchenden Werke von ihrer Hand stammen. Imperiale vererbte seinen Besitz an seine Schwester Maria Caterina Imperiale Grimaldi, Marchesa di Petra.

Während des 19. Jahrhunderts gelangte das Gemälde der Lucretia in die Sammlung der Familia Jatta aus Ruvo di Puglia. Giovanni Jatta (1767-1844) trug eine wichtige archäologische Sammlung antiker griechischer Vasen zusammen (siehe G. Andreassi, Jatta di Ruvo. La famiglia, la collezione, il museo nazionale, Bari 1996). Er erwarb das vorliegende Gemälde vermutlich in Neapel. Im Familienarchiv befinden sich mehrere mit der Sammlung in Verbindung stehende Urkunden, die auf „belle donne nude con pugnale“ [„schöne nackte Frauen mit Dolch“] verweisen. In der Auktion wird auch ein weiteres Gemälde der Lucretia aus derselben Sammlung von der Künstlerin Diana de Rosa angeboten (siehe Lot 58).


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 23.10.2018 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 13.10. - 23.10.2018


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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