Lot Nr. 4


Egon Schiele


Egon Schiele - Klassische Moderne

(Tulln 1890 – 1918 Wien)
Eigenhändiges Manuskript, signiert Egon Schiele, o. O., 17. 7. 1911, 4 Seiten, schwarze Tinte auf Papier (Briefpapier mit dezenter geometrischer Musterung in blaugrau), 17,5 x 12,5 cm. Hochbedeutendes, kalligraphisch streng stilisiertes Schreiben an einen namentlich nicht genannten Empfänger:

„Es gibt keine moderne Kunst, es gibt nur eine Kunst und die ist immerwährend! Das Kunstwerk kann man nicht besehn, sondern man kann nur hineinschauen können, und dazu sind wenige begabt, ich danke Gott. Die Menge ist natürlich unmaßgebend für das Kunstwerk, weil es die Menge ist, der Große ist einzig. Immer ein göttlicher Mensch führt die Masse! Das wirkliche Kunstwerk ist die Offenbarung einer speziellen Künstler-natur, der Gegenstand ist gleichgiltig, er ist unsterblich (…) Die Göttlichkeit der großen Kunst wird deshalb immer unsichtbarer, weil man glaubt die Masse könne urteilen, aber es ist nicht so wie bei einer neuen (modernen) Schlacht. Urteilen muß der Künstler selbst über sich, ein zweiter kann überhaupt nicht urteilen, weil er zu klein ist dazu. Nur ein größerer als jener könnte urteilen also muss der ein höherer Künstler sein. Sehe man doch endlich ab von der lächerlichen Zwerghaftigkeit der Masse! Dass in Mödling ein körperlich gewiegter Maler lebt glaub ich, in dem Moment wo er übel nachredet zeigt er selbst seine erbärmliche Armut! Nach 50 Jahren wird man nichts wissen von ihm. – Ja es ist richtig, der Künstler ist berufen zum Künstler, nicht aber darf er die Kunst als Beruf verwirklichen, also wäre es ganz kleines Geschäft. Die Kunst geht eben nicht nach Brot, eher das Kunstgewerbe in dem Moment wo es praktisch wird (…) Also sei gesagt: daß der Künstler einzig ist, daß er Herrscher, Beherrscher über 100, 1000 und 10 000 ist, daß er nur für sich allein schafft, weil es dasselbe ist wie atmen. Wie klein sind alle die die Uniformen benötigen, Kaiser, König, Staat, wie abhängig sind sie von einem einzigen Großen. – Kaufen werdet ihr niemals Kunstwerke können, sie sind unbezahlbar, es gibt keine Summen dafür. Erwerbet Fragmente eines Künstlers! Egon Schiele“.

Egon Schiele und das „Immerwährende“ der Kunst. Zu einem neu entdeckten Manuskript
Tobias G. Natter

Egon Schiele (1890–1918), der zu den bedeutendsten Künstlern der internationalen Moderne zählt, war stolz auf seine Doppelbegabung als Maler und Sprachkünstler. Seinem sprachlichen Talent verleiht er in zahlreichen Texten Ausdruck. Längst liefern sie die Basis für einen „nicht mehr wegzudenkenden Aspekt der Schiele-Forschung.“ 1 Von der Wissenschaft unentdeckte Schiele-Dokumente tauchen heute aber kaum mehr auf. Umso spannend ist die hier publizierte Neuentdeckung, deren Gehalt und inhaltliche Stoßrichtung dem Text einen manifesthaften Charakter verleihen.

Wie ein Paukenschlag eröffnet Schieles erster Satz die Ausführungen: „Kunst ist immerwährend“. Für einen Revolutionär wie Schiele eigentlich überraschend wird damit nicht der Bruch mit dem Vorangehenden und der Konvention betont, sondern das Durchgehende, Unaufhörlich und Permanente von großer Kunst als etwas Unsterblich-Ewiges. Ein derartiges Bekenntnis ist aus der Feder des jungen Künstlers, dem Mitbegründer des österreichischen Frühexpressionismus und oft gescholtenen Tabubrecher nicht selbstverständlich. Es gehe laut Schiele um das Zeitlose und bei der Kunstbetrachtung nicht allein um ein Sehen, sondern um ein wesenhaftes „Hineinschauen“. 2 Das Kunstwerk sei eine Offenbarung, entstanden aus Notwendigkeit. Der vom Publikum geforderte Beitrag darf dabei kein geringer sein. Schiele lässt uns tief in sein eigenes Kunstverständnis blicken. Selbst wenn das Kunstwerk käuflich gehandelt wird, so bleibe es seinem Wesen nach unbezahlbar.

Schiele ist 21 Jahre alt, als er den Text verfasst. Er ist mit „17. Juli 1911“ datiert. Die Ausführungen füllen alle vier Seiten des kleinformatigen Briefpapiers. Die Zeilen sind eng beschrieben. Keine Korrekturen oder Streichungen verunstalten den Gedankenfluss. Der Text entwickelt sich wie in einem Guß, ist grammatikalisch nahezu fehlerfrei und wirkt wie eine Reinschrift; geschrieben auf einem einfach gefalteten Briefbogen. An dem Papier sind der blaue Farbschnitt und das blaugraue Karo der Papierrasterung bemerkenswert. Dieses Briefpaper verwendet Schiele selten. Unter den heute nachweisbaren Schiele-Autographen finden wir es erstmals in einem Brief des Künstlers vom 28. Juni 1911. 3 Interessanterweise benutzt er dieses ungewöhnliche Briefpapier danach mehrfach, aber nur während eines kurzen Zeitfensters in den drei Monaten von Juni bis August des Jahres 1911. 4 Der neu aufgetauchte Text mit der Datierung vom 17. Juli 1911 passt also zeitlich bestens zum bekannten Bestand.

Es ist spannend, den Inhalt dieser Botschaft mit anderen Schiele-Äußerungen in Bezug zu setzen. Dabei wird deutlich, wie sehr ihm die hier formulierten Kerngedanken am Herzen liegen. Bislang war Schieles programmatische Bekenntnis zur „immerwährenden Kunst“ vor allem aus einem gedruckten Text bekannt, der im März 1911 erstmals unter dem Titel „Entwurf zu einem geschriebenen Selbstbildnis“ publiziert wird. 5 Dort heißt es inhaltlich identisch, aber in anderer Wortstellung: „Ich glaube, daß es keine `moderne´ Kunst gibt, daß es nur eine Kunst gibt, und die ist immerwährend“. Auch in einem Brief an seinen Onkel Leopold Czihaczek, zwei Monate später, verkündet Schiele: „Ich weiß daß es keine moderne Kunst gibt, sondern nur eine, - die immerwährend ist“. 6 In diesem Brief voller Aphorismen findet sich auch der Satz: „Das Kunstwerk ist unbezahlbar, es kann erworben werden“.

All dies sind grundlegende Gedanken eines jungen Senkrechtstarters. Zum Zeitpunkt, als er den Text verfasst, hatte er eben erst seinen 21 Geburtstag gefeiert. Man verliert heute viel zu leicht aus den Augen, wie viele Karrierestufen der junge Maler damals schon erklommen hat. Mit 19 Jahren hatte er das Studium abgebrochen, im selben Jahr gibt er sein Wiener Ausstellungsdebut auf der „Internationalen Kunstschau“ 1909, kann schon damals auf die tatkräftige Unterstützung von Sammlern und Käufern zählen, darunter engagierte Großsammler wie der Industrielle Carl Reininghaus. Mit Arthur Roessler steht ihm ein kundiger Impressario und Strippenzieher zur Seite. Als Schiele von April bis Mai 1911 seine erste Einzelausstellung zeigt, findet sie in der unbestritten ersten Adresse bei H. O. Miethke in der Dorotheergasse statt, die niemand geringeren als Gustav Klimt exklusiv vertritt und Monet, Manet und die anderen großen Klassiker der französischen Moderne präsentiert. Schieles Eintritt in die Kunstwelt entwickelt sich also unwahrscheinlich dynamisch. In Deutschland wird 1911 für ein Museum ein erstes Schiele-Gemälde angekauft. Der Einbruch kommt erst im folgenden Jahr 1912 mit der Neulengbach-Affäre, als Verurteilung und Zuchthaus Schiele fast aus der Bahn werfen.

Zurück zum vorliegenden Schriftstück: Nicht alles in dem Text lässt sich klar zuordnen. Da ist von einem „körperlich gewiegten Mann“ in Mödling die Rede. Wer sich dahinter verbirgt, bleibt unklar. Offensichtlich fühlt sich Schiele von ihm massiv attackiert („in dem Moment wo er übel nachredet zeigt er selbst seine erbärmliche Armut!“). Damals und speziell im Jahr 1911 musste sich Schiele ja immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, künstlerisch zunächst von Gustav Klimt und um 1910/11 besonders von Oskar Kokoschka abhängig zu sein. Aber was den Mödlinger Widersacher angeht, ist sich Schiele sicher: „Nach 50 Jahren wird man nichts wissen von ihm.“ Womit er recht behalten hat. Es waren wohl Angriffe wie dieser, die Schiele zur Überzeugung brachten: Nicht jeder könne Kunst verstehen, „dazu sind einige begabt“. Aus Schieles Sicht stellte sich der Konflikt als ein klarer Gegensatz zwischen der breiten Masse dar – „Die Menge ist natürlich unmaßgebend für das Kunstwerk“ – und der „Göttlichkeit der großen Kunst“.

Hierher passt auch Schieles abfällige Bemerkung zu Uniformiertem („Wie klein sind alle die die Uniformen benötigen“). In seiner konstitutiv-individuellen Haltung war Schiele alles Uniformierte zuwider. Aus anderen Dokumenten wissen wir, dass Schiele sich 1911 ernsthaft Sorgen macht, zum Militär eingezogen zu werden. 7 Doch dem Tragen einer Uniform entging er – noch. Dies ändert erst der Beginn des Ersten Weltkrieges, als 1916 zum Wehrdienst eingezogen wird.

Der Adressat des neu aufgetauchten Schreibens bleibt bedauerlicherweise unklar. Auch aus der Provenienz ist sie vorerst nicht zu erschließen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Schieles grundlegende Mitteilung sich nie an eine Einzelperson gerichtet hat. Trotz Briefpapier fehlt ja eine briefliche Anrede. Stattdessen hat der Text etwas von einer öffentlichen Erklärung. Auch dies passt ins Bild: Schiele war sich zu jeder Zeit – selbst als er 1912 im Gefängnis sitzen wird – seines grundsätzlichen Sendungsbewusstseins als Künstler sicher.

Die neu entdeckte Botschaft endet mit den Worten: „Kaufen werdet ihr niemals Kunstwerke können, sie sind unbezahlbar, es gibt keine Summen dafür. Erwerbet Fragmente eines Künstlers! Egon Schiele“. 8 Der Maler und Zeichner Egon Schiele ist sich der Problematik von Kunst als Broterwerb bewusst. Aber sich sieht er wo anders. Wir können Fragmente erwerben. Fragmente aber nicht verstanden als Bruchstücke im Sinn eines unvollendeten Werkes, sondern als Leitmetapher der Moderne, als Teile und Teilhabe an einem größeren Ganzen.

1 Ursula Storch, .“... ich glaube, daß jeder Künstler Dichter sein muß ...“. Text und Sprache bei Egon Schiele, in: Tobias G. Natter (Hg.): Egon Schiele. Sämtliche Gemälde 1909-1918, Köln 2017, S. 427.
2 Den selben Gedanken hatte Schiele schon am 31. Januar 1911 formuliert, als er einem seiner Sammler schreibt, das Verständnis für seine Bilder stelle sich ein, „sobald Sie beginnen, nicht daraufzusehen sondern hineinzuschauen“ (Egon Schiele in einem Brief an Oskar Reichel vom 31/03/1911; vgl. Christian M. Nebehay: Egon Schiele, 1890–1918. Leben, Briefe, Gedichte, Salzburg/Wien 1979, Nr. 176).
3 Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 180.653 (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 231).
4 Siehe besonders die Briefe von Egon Schiele an Arthur Roessler vom 13. Juli 1911 (Wienbibliothek Handschriftensammlung, H.I.N. 180.654; Nebehay 1979, wie oben Nr. 236) und 31. Juli 1911 (Wienbibliothek H.I.N. 180.655; Nebehay 1979, wie oben, Nr. 239). Auf einem farblich geringfügig abweichenden Briefpapier, weil nicht mit einem blauem sondern mit einem rotem Farbrand, siehe die zeitlich anschließenden Schiele-Briefe an Rossler vom 5. August 1911 (Wienbibliothek H.I.N. 180.656; Nebehay 1979, wie oben, Nr. 241) und 10. August 1911 (Wienbibliothek H.I.N. 180.657; Nebehay 1979, wie oben, Nr. 244). Zu weiteren Schreiben auf diesem Briefpapier an andere Adressanten siehe den Schiele-Brief an Karl Ernst Osthaus, 20. Juli 1911 (Leopold Museum, Inv.Nr. LM 5369; nicht bei Nebehay 1979) und jener an einen unbekannten Adressanten (Privatbesitz, nicht bei Nebehay 1979, publiziert in: Elisabeth Leopold (Hg.): Der Lyriker Egon Schiele. Briefe und Gedichte 1910-1912. Aus der Sammlung Leopold, München u.a. 2008, S. 113. Dort allerdings falsch datiert).
5 Arthur Roessler: Egon Schiele, in: Bildende Künstler. Monatsschrift für Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1, Heft 3 (1911), S. 104–118 passim.
6 Brief vom 1. September 1911 (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 251). Im Jahr 1914 auch im damals erstmals publizierten Manifest der „Neukunstgruppe“ (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 671), der so in der Ur-Form des Manifests von 1909/10 nicht steht!
7 Elisabeth Leopold 2008, wie oben, S. 113.
8 Mit einem fast identischen Aufruf endet ein ebenfalls 1911 verfasstes Schiele-Schreiben an Arthur Roessler: „Kauft! – Nicht Bilder, nicht Produkte, nicht Arbeit, Bilder? – Aus mir – Nicht von mir. – Mich erkaufen? – Fragment. E. Schiele.“ (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 171).

Egon Schiele | Klassische Moderne Auktion

Experte: Mag. Andreas Löbbecke Mag. Andreas Löbbecke
+43-1-515 60-389

books@dorotheum.at

26.11.2019 - 17:00

Erzielter Preis: **
EUR 27.800,-
Schätzwert:
EUR 20.000,- bis EUR 40.000,-

Egon Schiele


(Tulln 1890 – 1918 Wien)
Eigenhändiges Manuskript, signiert Egon Schiele, o. O., 17. 7. 1911, 4 Seiten, schwarze Tinte auf Papier (Briefpapier mit dezenter geometrischer Musterung in blaugrau), 17,5 x 12,5 cm. Hochbedeutendes, kalligraphisch streng stilisiertes Schreiben an einen namentlich nicht genannten Empfänger:

„Es gibt keine moderne Kunst, es gibt nur eine Kunst und die ist immerwährend! Das Kunstwerk kann man nicht besehn, sondern man kann nur hineinschauen können, und dazu sind wenige begabt, ich danke Gott. Die Menge ist natürlich unmaßgebend für das Kunstwerk, weil es die Menge ist, der Große ist einzig. Immer ein göttlicher Mensch führt die Masse! Das wirkliche Kunstwerk ist die Offenbarung einer speziellen Künstler-natur, der Gegenstand ist gleichgiltig, er ist unsterblich (…) Die Göttlichkeit der großen Kunst wird deshalb immer unsichtbarer, weil man glaubt die Masse könne urteilen, aber es ist nicht so wie bei einer neuen (modernen) Schlacht. Urteilen muß der Künstler selbst über sich, ein zweiter kann überhaupt nicht urteilen, weil er zu klein ist dazu. Nur ein größerer als jener könnte urteilen also muss der ein höherer Künstler sein. Sehe man doch endlich ab von der lächerlichen Zwerghaftigkeit der Masse! Dass in Mödling ein körperlich gewiegter Maler lebt glaub ich, in dem Moment wo er übel nachredet zeigt er selbst seine erbärmliche Armut! Nach 50 Jahren wird man nichts wissen von ihm. – Ja es ist richtig, der Künstler ist berufen zum Künstler, nicht aber darf er die Kunst als Beruf verwirklichen, also wäre es ganz kleines Geschäft. Die Kunst geht eben nicht nach Brot, eher das Kunstgewerbe in dem Moment wo es praktisch wird (…) Also sei gesagt: daß der Künstler einzig ist, daß er Herrscher, Beherrscher über 100, 1000 und 10 000 ist, daß er nur für sich allein schafft, weil es dasselbe ist wie atmen. Wie klein sind alle die die Uniformen benötigen, Kaiser, König, Staat, wie abhängig sind sie von einem einzigen Großen. – Kaufen werdet ihr niemals Kunstwerke können, sie sind unbezahlbar, es gibt keine Summen dafür. Erwerbet Fragmente eines Künstlers! Egon Schiele“.

Egon Schiele und das „Immerwährende“ der Kunst. Zu einem neu entdeckten Manuskript
Tobias G. Natter

Egon Schiele (1890–1918), der zu den bedeutendsten Künstlern der internationalen Moderne zählt, war stolz auf seine Doppelbegabung als Maler und Sprachkünstler. Seinem sprachlichen Talent verleiht er in zahlreichen Texten Ausdruck. Längst liefern sie die Basis für einen „nicht mehr wegzudenkenden Aspekt der Schiele-Forschung.“ 1 Von der Wissenschaft unentdeckte Schiele-Dokumente tauchen heute aber kaum mehr auf. Umso spannend ist die hier publizierte Neuentdeckung, deren Gehalt und inhaltliche Stoßrichtung dem Text einen manifesthaften Charakter verleihen.

Wie ein Paukenschlag eröffnet Schieles erster Satz die Ausführungen: „Kunst ist immerwährend“. Für einen Revolutionär wie Schiele eigentlich überraschend wird damit nicht der Bruch mit dem Vorangehenden und der Konvention betont, sondern das Durchgehende, Unaufhörlich und Permanente von großer Kunst als etwas Unsterblich-Ewiges. Ein derartiges Bekenntnis ist aus der Feder des jungen Künstlers, dem Mitbegründer des österreichischen Frühexpressionismus und oft gescholtenen Tabubrecher nicht selbstverständlich. Es gehe laut Schiele um das Zeitlose und bei der Kunstbetrachtung nicht allein um ein Sehen, sondern um ein wesenhaftes „Hineinschauen“. 2 Das Kunstwerk sei eine Offenbarung, entstanden aus Notwendigkeit. Der vom Publikum geforderte Beitrag darf dabei kein geringer sein. Schiele lässt uns tief in sein eigenes Kunstverständnis blicken. Selbst wenn das Kunstwerk käuflich gehandelt wird, so bleibe es seinem Wesen nach unbezahlbar.

Schiele ist 21 Jahre alt, als er den Text verfasst. Er ist mit „17. Juli 1911“ datiert. Die Ausführungen füllen alle vier Seiten des kleinformatigen Briefpapiers. Die Zeilen sind eng beschrieben. Keine Korrekturen oder Streichungen verunstalten den Gedankenfluss. Der Text entwickelt sich wie in einem Guß, ist grammatikalisch nahezu fehlerfrei und wirkt wie eine Reinschrift; geschrieben auf einem einfach gefalteten Briefbogen. An dem Papier sind der blaue Farbschnitt und das blaugraue Karo der Papierrasterung bemerkenswert. Dieses Briefpaper verwendet Schiele selten. Unter den heute nachweisbaren Schiele-Autographen finden wir es erstmals in einem Brief des Künstlers vom 28. Juni 1911. 3 Interessanterweise benutzt er dieses ungewöhnliche Briefpapier danach mehrfach, aber nur während eines kurzen Zeitfensters in den drei Monaten von Juni bis August des Jahres 1911. 4 Der neu aufgetauchte Text mit der Datierung vom 17. Juli 1911 passt also zeitlich bestens zum bekannten Bestand.

Es ist spannend, den Inhalt dieser Botschaft mit anderen Schiele-Äußerungen in Bezug zu setzen. Dabei wird deutlich, wie sehr ihm die hier formulierten Kerngedanken am Herzen liegen. Bislang war Schieles programmatische Bekenntnis zur „immerwährenden Kunst“ vor allem aus einem gedruckten Text bekannt, der im März 1911 erstmals unter dem Titel „Entwurf zu einem geschriebenen Selbstbildnis“ publiziert wird. 5 Dort heißt es inhaltlich identisch, aber in anderer Wortstellung: „Ich glaube, daß es keine `moderne´ Kunst gibt, daß es nur eine Kunst gibt, und die ist immerwährend“. Auch in einem Brief an seinen Onkel Leopold Czihaczek, zwei Monate später, verkündet Schiele: „Ich weiß daß es keine moderne Kunst gibt, sondern nur eine, - die immerwährend ist“. 6 In diesem Brief voller Aphorismen findet sich auch der Satz: „Das Kunstwerk ist unbezahlbar, es kann erworben werden“.

All dies sind grundlegende Gedanken eines jungen Senkrechtstarters. Zum Zeitpunkt, als er den Text verfasst, hatte er eben erst seinen 21 Geburtstag gefeiert. Man verliert heute viel zu leicht aus den Augen, wie viele Karrierestufen der junge Maler damals schon erklommen hat. Mit 19 Jahren hatte er das Studium abgebrochen, im selben Jahr gibt er sein Wiener Ausstellungsdebut auf der „Internationalen Kunstschau“ 1909, kann schon damals auf die tatkräftige Unterstützung von Sammlern und Käufern zählen, darunter engagierte Großsammler wie der Industrielle Carl Reininghaus. Mit Arthur Roessler steht ihm ein kundiger Impressario und Strippenzieher zur Seite. Als Schiele von April bis Mai 1911 seine erste Einzelausstellung zeigt, findet sie in der unbestritten ersten Adresse bei H. O. Miethke in der Dorotheergasse statt, die niemand geringeren als Gustav Klimt exklusiv vertritt und Monet, Manet und die anderen großen Klassiker der französischen Moderne präsentiert. Schieles Eintritt in die Kunstwelt entwickelt sich also unwahrscheinlich dynamisch. In Deutschland wird 1911 für ein Museum ein erstes Schiele-Gemälde angekauft. Der Einbruch kommt erst im folgenden Jahr 1912 mit der Neulengbach-Affäre, als Verurteilung und Zuchthaus Schiele fast aus der Bahn werfen.

Zurück zum vorliegenden Schriftstück: Nicht alles in dem Text lässt sich klar zuordnen. Da ist von einem „körperlich gewiegten Mann“ in Mödling die Rede. Wer sich dahinter verbirgt, bleibt unklar. Offensichtlich fühlt sich Schiele von ihm massiv attackiert („in dem Moment wo er übel nachredet zeigt er selbst seine erbärmliche Armut!“). Damals und speziell im Jahr 1911 musste sich Schiele ja immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, künstlerisch zunächst von Gustav Klimt und um 1910/11 besonders von Oskar Kokoschka abhängig zu sein. Aber was den Mödlinger Widersacher angeht, ist sich Schiele sicher: „Nach 50 Jahren wird man nichts wissen von ihm.“ Womit er recht behalten hat. Es waren wohl Angriffe wie dieser, die Schiele zur Überzeugung brachten: Nicht jeder könne Kunst verstehen, „dazu sind einige begabt“. Aus Schieles Sicht stellte sich der Konflikt als ein klarer Gegensatz zwischen der breiten Masse dar – „Die Menge ist natürlich unmaßgebend für das Kunstwerk“ – und der „Göttlichkeit der großen Kunst“.

Hierher passt auch Schieles abfällige Bemerkung zu Uniformiertem („Wie klein sind alle die die Uniformen benötigen“). In seiner konstitutiv-individuellen Haltung war Schiele alles Uniformierte zuwider. Aus anderen Dokumenten wissen wir, dass Schiele sich 1911 ernsthaft Sorgen macht, zum Militär eingezogen zu werden. 7 Doch dem Tragen einer Uniform entging er – noch. Dies ändert erst der Beginn des Ersten Weltkrieges, als 1916 zum Wehrdienst eingezogen wird.

Der Adressat des neu aufgetauchten Schreibens bleibt bedauerlicherweise unklar. Auch aus der Provenienz ist sie vorerst nicht zu erschließen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Schieles grundlegende Mitteilung sich nie an eine Einzelperson gerichtet hat. Trotz Briefpapier fehlt ja eine briefliche Anrede. Stattdessen hat der Text etwas von einer öffentlichen Erklärung. Auch dies passt ins Bild: Schiele war sich zu jeder Zeit – selbst als er 1912 im Gefängnis sitzen wird – seines grundsätzlichen Sendungsbewusstseins als Künstler sicher.

Die neu entdeckte Botschaft endet mit den Worten: „Kaufen werdet ihr niemals Kunstwerke können, sie sind unbezahlbar, es gibt keine Summen dafür. Erwerbet Fragmente eines Künstlers! Egon Schiele“. 8 Der Maler und Zeichner Egon Schiele ist sich der Problematik von Kunst als Broterwerb bewusst. Aber sich sieht er wo anders. Wir können Fragmente erwerben. Fragmente aber nicht verstanden als Bruchstücke im Sinn eines unvollendeten Werkes, sondern als Leitmetapher der Moderne, als Teile und Teilhabe an einem größeren Ganzen.

1 Ursula Storch, .“... ich glaube, daß jeder Künstler Dichter sein muß ...“. Text und Sprache bei Egon Schiele, in: Tobias G. Natter (Hg.): Egon Schiele. Sämtliche Gemälde 1909-1918, Köln 2017, S. 427.
2 Den selben Gedanken hatte Schiele schon am 31. Januar 1911 formuliert, als er einem seiner Sammler schreibt, das Verständnis für seine Bilder stelle sich ein, „sobald Sie beginnen, nicht daraufzusehen sondern hineinzuschauen“ (Egon Schiele in einem Brief an Oskar Reichel vom 31/03/1911; vgl. Christian M. Nebehay: Egon Schiele, 1890–1918. Leben, Briefe, Gedichte, Salzburg/Wien 1979, Nr. 176).
3 Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H.I.N. 180.653 (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 231).
4 Siehe besonders die Briefe von Egon Schiele an Arthur Roessler vom 13. Juli 1911 (Wienbibliothek Handschriftensammlung, H.I.N. 180.654; Nebehay 1979, wie oben Nr. 236) und 31. Juli 1911 (Wienbibliothek H.I.N. 180.655; Nebehay 1979, wie oben, Nr. 239). Auf einem farblich geringfügig abweichenden Briefpapier, weil nicht mit einem blauem sondern mit einem rotem Farbrand, siehe die zeitlich anschließenden Schiele-Briefe an Rossler vom 5. August 1911 (Wienbibliothek H.I.N. 180.656; Nebehay 1979, wie oben, Nr. 241) und 10. August 1911 (Wienbibliothek H.I.N. 180.657; Nebehay 1979, wie oben, Nr. 244). Zu weiteren Schreiben auf diesem Briefpapier an andere Adressanten siehe den Schiele-Brief an Karl Ernst Osthaus, 20. Juli 1911 (Leopold Museum, Inv.Nr. LM 5369; nicht bei Nebehay 1979) und jener an einen unbekannten Adressanten (Privatbesitz, nicht bei Nebehay 1979, publiziert in: Elisabeth Leopold (Hg.): Der Lyriker Egon Schiele. Briefe und Gedichte 1910-1912. Aus der Sammlung Leopold, München u.a. 2008, S. 113. Dort allerdings falsch datiert).
5 Arthur Roessler: Egon Schiele, in: Bildende Künstler. Monatsschrift für Künstler und Kunstfreunde, Bd. 1, Heft 3 (1911), S. 104–118 passim.
6 Brief vom 1. September 1911 (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 251). Im Jahr 1914 auch im damals erstmals publizierten Manifest der „Neukunstgruppe“ (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 671), der so in der Ur-Form des Manifests von 1909/10 nicht steht!
7 Elisabeth Leopold 2008, wie oben, S. 113.
8 Mit einem fast identischen Aufruf endet ein ebenfalls 1911 verfasstes Schiele-Schreiben an Arthur Roessler: „Kauft! – Nicht Bilder, nicht Produkte, nicht Arbeit, Bilder? – Aus mir – Nicht von mir. – Mich erkaufen? – Fragment. E. Schiele.“ (Nebehay 1979, wie oben, Nr. 171).

Egon Schiele | Klassische Moderne Auktion

Experte: Mag. Andreas Löbbecke Mag. Andreas Löbbecke
+43-1-515 60-389

books@dorotheum.at


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
kundendienst@dorotheum.at

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Auktion: Klassische Moderne
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 26.11.2019 - 17:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 16.11. - 26.11.2019


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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