Lot Nr. 55


Lavinia Fontana


Lavinia Fontana - Alte Meister

(Bologna 1552–1614 Rom)
Bildnis eines Halbwüchsigen mit Hund am Schreibtisch,
Öl auf Leinwand, 225 x 145 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich Sammlung Sampieri, Bologna;
europäische Privatsammlung (seit um 1950, erworben durch den Vater des jetzigen Besitzers)

Literatur:
V. Fortunati, in. V. Fortunati (Hg.), Lavinia Fontana of Bologna 1552–1614, Ausstellungskatalog, Mailand 1998, S. 16f., Abb. 6 (als Lavinia Fontana);
C. P. Murphy, Lavinia Fontana. A Painter and Her Patrons in Sixteenth-Century Bologna, New Haven/London 2003, S. 180, Abb. 169 (als Lavinia Fontana)

Wir danken Maria Teresa Cantaro, die die Zuschreibung nach Prüfung des vorliegenden Gemäldes im Original bestätigt hat, für ihre Hilfe bei der Katalogisierung des Lots.

Dieses Porträt eines Jünglings wurde erstmals 1998 von Vera Fortunati mit der Zuschreibung an Lavinia Fontana veröffentlicht. Diese Einschätzung wurde von Caroline Murphy akzeptiert, die das Gemälde um 1585–1590 datiert und die Beobachtung gemacht hat, dass der hier rechts dargestellte grüne Vorhang auch auf anderen Werken der Künstlerin aus der letzten Dekade des 16. Jahrhunderts auftaucht (siehe Literatur). Die Komposition des Werks deckt sich mit anderen Porträts aus Lavinia Fontanas Reifezeit, und es finden sich zahlreiche stilistische Gemeinsamkeiten mit dem Werkkorpus der Künstlerin. Zudem teilt das Bild ganz allgemein die ästhetischen Anliegen, welche das Schaffen der Künstlerin zu dieser Zeit offenkundig bestimmten.

Der Dargestellte, ein korpulenter und etwas arrogant dreinblickender Jüngling, ist ganzfigurig wiedergegeben. Die Finger der rechten Hand liegen, ein „V“ bildend, auf seiner Hüfte – ein Gestus, der, wie Mauro Zanchi ausgeführt hat, ikonografisch auf eine magische, abergläubische Kraft gegen Krankheit und Tod hinweisen könnte (siehe M. Zanchi, Letture iconologiche. Il gesto a „V“ rovesciata nell’arte del Cinquecento. Sotto il segno di Diana, in: Art e Dossier, Nr. 315, November 2014, S. 72–77; M. Zanchi, Studi e scoperte. 1. Il gesto delle corna. Magico, sacrale, scaramantico, in: Art e Dossier, Nr. 368, Januar 2016, S. 58–63; M. Zanchi, Magismo nel gesto. I segni delle corna nell’Arte, Bergamo 2016, S. 55–76).

Der junge Mann ist in einer intimen Stube eines vornehmen Hauses dargestellt, worauf der polierte bunte und geometrisch gemusterte Marmorboden hinweist, der dem Bildraum auch Tiefe verlieht. Diese Art Fußboden erscheint um 1580 auch bei Lavinias Vater Prospero und kehrt typischerweise auch auf mehreren ihrer eigenen Gemälden wieder (siehe beispielsweise Christus im Hause von Martha und Maria im Conservatorio di Santa Marta in Bologna; das Gruppenportrait der Familie Gozzadini von 1584 sowie San Francesco di Paola segnet ein Kind von 1590, beide in der Pinacoteca Nazionale di Bologna, ebenso die Heilige Familie mit dem schlafenden Jesuskind, dem Johannesknaben und der heiligen Elisabeth von 1591 im Nationalmuseum, Stockholm, eine eigenhändige Replik des Werks in der Galleria Borghese, Rom – siehe M. T. Cantaro 1989, S. 96, 117, 151, 157). Ein ähnlicher Boden taucht auch auf dem signierten und datierten Bildnis des Grafen Gentile Sassatelli von 1581 in der Sammlung Klesch in London auf.

Der Dargestellte des vorliegenden Porträts trägt ein tiefrotes, an der Brust einreihig mit eng gesetzten Knöpfen geschlossenes Wams unter einer nur am Hals zugeknöpften und ansonsten offenen schwarzen Weste; die Manschetten eines weißen Spitzenhemds ragen aus den Ärmeln hervor, um den Hals legt sich eine weiße Krause. Die passende rote Hose, aus der ein darin verborgener bestickter rosafarbener Seidenbeutel hervorlugt, reicht bis zu den Knien; er trägt rote Socken und hellbraune Lederschuhe. Am kleinen Finger der rechten Hand trägt der junge Mann einen goldenen Ring mit einem Kreuz und der Aufschrift „INRI“, dessen überlegte Zurschaustellung im Bild möglicherweise darauf hinweist, dass der Dargestellte einer weltlichen Glaubensgemeinschaft wie der Confraternità del Crocifisso del Cestello angehörte, die 1514 nach der wundersamen Erscheinung eines gemalten Kreuzes auf der Außenmauer der Kirche in der Via Cestelle am Torrente Aposa (auch genannt Avesa) in Bologna gegründet worden war. 1516 wurde an der Stelle der Sitz einer Konfraternität errichtet (siehe P. Masini, Bologna perlustrata, Bologna 1666, Bd. I, S. 301f., 455; ebenso M. Fini, Bologna sacra: tutte le chiese in due millenni di storia, Bologna 2007, S. 59). Zu ihren Gründern und Förderern gehörten Mitglieder mehrerer Bologneser Adelsfamilien, darunter u. a. die Caprai, die Accursio, die Odofredi und die Sampieri. Wenn der hier dargestellte Jüngling dieser Gemeinschaft angehörte, kamen die Auftraggeber des vorliegenden Gemäldes möglicherweise aus einer der hier aufgezählten Familien, wenn auch nichts im Bild dies bestätigen würde. Zur Konfraternität zugelassen wurde man ab dem 16. Lebensjahr.

Am 26. März 1580 wurde aufgrund einer von Gregor XIII. erlassenen päpstlichen Bulle die Compagnia del Cestello in Bologna mit der des Santissimo Crocifisso di San Marcello in Rom zusammengelegt. Die Konfraternität wurde unter Napoleon per Gesetz am 27. Juli 1798 aufgelöst, durfte sich aber 1803 neu bilden (siehe A. M. Porcu, Il Santuario e la Confraternita del SS. Crocifisso del Cestello in Bologna, Bologna 1961, insb. S. 15, 61, 65, 81).

Neben der mehr als lebensgroß dargestellten Figur des Jünglings befindet sich ein mit einem orangefarbenen Samttuch bedeckter Tisch, auf dem unterschiedliche Objekte in Reih und Glied aufgelegt sind, als sollten sie auf die Befähigungen des Dargestellten hinweisen. Es scheint sich bei ihm um einen Gelehrten der Mathematik und Ingenieurskunst zu handeln. Über die Tischkante hinaus ragt als Trompe-l’oeil ein geöffneter Zirkel, daneben steht ein großes, in Fächer unterteiltes Tintenzeug. Auch mehrere Bücher unterschiedlicher Größe sowie ein paar weiße Papierbögen und ein Lineal liegen auf dem Tisch. Schließlich findet sich darauf auch ein elegantes Behältnis für Instrumente aus emailliertem und graviertem Metall. Daraus treten die Grifflöcher einer Schere und die Griffe mehrerer weiterer metallischer Gegenstände hervor. Der Deckel des Behältnisses liegt schräg auf dem Tisch, zwei Quasten dienen dazu, es zu verschließen oder vielleicht auch um den Hals zu tragen. Kompass und Lineal wurden aus dem Behältnis herausgenommen, um sie für den Betrachter sichtbar zu machen.

Der theatralische Einsatz des Vorhangs – ein Motiv, das Lavinia ab 1589 verwendete – findet sich erstmals bei ihrer Heiligen Familie mit dem schlafenden Jesuskind und dem Johannesknaben, die für den spanischen König entstand und für das Kloster El Escorial bestimmt war, sowie bei den kleinformatigen Repliken dieses Werks. Der Vorhang kehrt in der Geburt Mariens für Santa Trinità in Bologna (1590) wieder, ebenso auf dem Porträt der Brigida Righi (1591), dem Gemälde Venus und Amor (1592) im Musée des Beaux-Arts, Rouen, und dem Porträt der Costanza Alidosi (um 1595) im National Museum of Women in the Arts, Washington. Schließlich tritt dasselbe grüne Vorhangmotiv auch auf dem Gemälde Minerva beim Ankleiden (1613) in der Galleria Borghese in Rom, dem letzten dokumentierten Werk Lavinia Fontanas, in Erscheinung, wo es dieselbe Aufgabe übernimmt wie im vorliegenden Porträt (siehe M. T. Cantaro 1989, S. 146f., 156f., 152f., 160f., 172f., 222–224).

Die nüchterne Komposition dieses Gemäldes, die den damaligen internationalen Anforderungen an die Porträtkunst an den Höfen Europas entspricht, wird durch die Einbeziehung des kleinen Hundes gebrochen, der unter dem Tisch hervorlugt. Das Tier verleiht der Szene eine fröhliche Leichtigkeit und unterbricht die kühle Strenge des Bildes; munter blickt es zu seinem jungen Herrn auf, bereit, seinen Wünschen zu folgen.

Murphy hat eine mit dem Bild in Zusammenhang stehende Zeichnung mit dem Porträt eines Jünglings im Gabinetto dei Disegni e delle Stampe in den Uffizien in Florenz entdeckt (Inv.-Nr. 12189F, schwarze Kreide und Rötel, 7,7 x 6 cm, siehe Abb. 1), von der sie glaubt, es handle sich um eine vorbereitende Studie des Gesichts des hier dargestellten jungen Mannes. Tatsächlich stimmen Gesichtsform, Nase, Augen, Mund und Ohr, die Rundung des Kinns, das kurz geschnittene Haar, die Kopfform und selbst die Blickrichtung des Dreiviertelprofils überein; dies trifft auch auf den sicheren, entschlossenen Blick des Dargestellten zu, der sich sowohl auf der Zeichnung als auch auf dem Gemälde zeigt. Nur der Kragen des Jünglings ist ein anderer, was einfach darauf zurückzuführen sein mag, dass er, als er für die Porträtskizze Modell stand, anders gekleidet war als für das repräsentative offizielle Porträt.

Laut Cantaro datiert dieses Bildnis wie auch die damit in Zusammenhang stehende Zeichnung in die frühen 1590er-Jahre. Ein weiteres auffälliges Merkmal des Porträts ist die etwas überhebliche Pose, die sich durch den gebeugten Ellenbogen und die in die Hüfte gestützte Hand ergibt – eine typisch kühne und selbstbewusste Körperhaltung, die nicht nur zum Einsatz kam, um dem Darstellten Charakter zu verleihen, sondern häufig auch als kompositorisches Mittel, um die Darstellung auszubalancieren. Lavinia Fontana setzte diesen Kunstgriff auch auf dem Porträt des Conte Gentile Sassatelli, eines Edelmanns aus Imola (signiert und datiert 1581, Öl auf Leinwand, 217,5 x 120 cm, Sotheby’s, Mailand, 14. Juni 2011, Lot 18, als Ritratto di gentiluomo in arme), ein, das 2018 von der Klesch Collection, London, bei Christie’s erworben wurde. Dort ist der Dargestellte wie auf dem vorliegenden Porträt ganzfigurig an einem Tisch stehend wiedergegeben; der Formel entsprechend, derer sich Fontana bei ihren offiziellen Porträts bediente, ist der Porträtierte in einem vergleichbaren Interieur mit derselben Art Fußboden dargestellt. In diesem Fall gibt eine geöffnete Tür den Blick auf eine Abfolge von drei Räumen frei, die mit einem Fenster abschließt. Diese Art Bildkulisse geht auf Lavinias Vater Prospero zurück und wurde von der Künstlerin vor allem in ihren früheren Werken häufig eingesetzt. Beim vorliegenden Gemälde hat sich Lavinia hingegen dazu entschlossen, diesen Bereich der Komposition durch einen Vorhang zu verbergen, und damit eine eher geschlossene, theaterhafte Kulisse gewählt.

Trotz der zahlreichen kompositorischen Gemeinsamkeiten der beiden Porträts ist Cantaro der Auffassung, dass das vorliegende Werk ungefähr zehn Jahre nach dem Bildnis Sassatellis (1581) sowie etwa acht Jahre nach dem monumentalen Gruppenporträt der Familie Gozzadini (1583) in der Pinacoteca Nazionale in Bologna entstanden ist. Letzteres war zweifellos vorbildhaft für die strenge Komposition des vorliegenden Gemäldes, das den Ansprüchen an den offiziellen Porträtstil Genüge tut. Zudem lässt das vorliegende Werk eine konzisere und in sich geschlossenere Beschreibung des Dargestellten in einem beengteren Raum erkennen, wodurch es Lavinia möglich war, verstärkt auf den Dargestellten und die Gerätschaften seiner Profession zu fokussieren.

Bis dato ist es nicht gelungen, die Identität des etwa fünfzehn- oder sechszehnjährigen jungen Gelehrten festzustellen. Zirkel, Tintenzeug und Messinstrumente verweisen jedoch auf einen angehenden Architekten. Diese Gegenstände, insbesondere der Zirkel, tauchen wiederholt auf früheren, zeitgenössischen und späteren Bildnissen von Mitgliedern dieses Berufsstands auf. Zu berühmten Beispielen zählt das Porträt eines Architekten von Lorenzo Lotto (um 1535, Gemäldegalerie, Berlin), das Porträt eines Architekten von Bernardino Licinio (1541, Royal Collection Trust, Kensington Palace, London), das Porträt des Domenico Fontana von Federico Zuccari (1585–1590, Pinacoteca Nazionale di Brera, Mailand), das Porträt des Carlo Maderno von einem unbekannten Künstler aus Bergamo (1615–1620, Museo d’Arte della Svizzera Italiana, Lugano) und das Porträt eines Architekten, bei dem es sich möglicherweise um Giuseppe Calzolari handelt, von Giuseppe Maria Crespi (1730, Pinacoteca Nazionale, Bologna).

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com

10.11.2020 - 16:00

Schätzwert:
EUR 150.000,- bis EUR 200.000,-

Lavinia Fontana


(Bologna 1552–1614 Rom)
Bildnis eines Halbwüchsigen mit Hund am Schreibtisch,
Öl auf Leinwand, 225 x 145 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich Sammlung Sampieri, Bologna;
europäische Privatsammlung (seit um 1950, erworben durch den Vater des jetzigen Besitzers)

Literatur:
V. Fortunati, in. V. Fortunati (Hg.), Lavinia Fontana of Bologna 1552–1614, Ausstellungskatalog, Mailand 1998, S. 16f., Abb. 6 (als Lavinia Fontana);
C. P. Murphy, Lavinia Fontana. A Painter and Her Patrons in Sixteenth-Century Bologna, New Haven/London 2003, S. 180, Abb. 169 (als Lavinia Fontana)

Wir danken Maria Teresa Cantaro, die die Zuschreibung nach Prüfung des vorliegenden Gemäldes im Original bestätigt hat, für ihre Hilfe bei der Katalogisierung des Lots.

Dieses Porträt eines Jünglings wurde erstmals 1998 von Vera Fortunati mit der Zuschreibung an Lavinia Fontana veröffentlicht. Diese Einschätzung wurde von Caroline Murphy akzeptiert, die das Gemälde um 1585–1590 datiert und die Beobachtung gemacht hat, dass der hier rechts dargestellte grüne Vorhang auch auf anderen Werken der Künstlerin aus der letzten Dekade des 16. Jahrhunderts auftaucht (siehe Literatur). Die Komposition des Werks deckt sich mit anderen Porträts aus Lavinia Fontanas Reifezeit, und es finden sich zahlreiche stilistische Gemeinsamkeiten mit dem Werkkorpus der Künstlerin. Zudem teilt das Bild ganz allgemein die ästhetischen Anliegen, welche das Schaffen der Künstlerin zu dieser Zeit offenkundig bestimmten.

Der Dargestellte, ein korpulenter und etwas arrogant dreinblickender Jüngling, ist ganzfigurig wiedergegeben. Die Finger der rechten Hand liegen, ein „V“ bildend, auf seiner Hüfte – ein Gestus, der, wie Mauro Zanchi ausgeführt hat, ikonografisch auf eine magische, abergläubische Kraft gegen Krankheit und Tod hinweisen könnte (siehe M. Zanchi, Letture iconologiche. Il gesto a „V“ rovesciata nell’arte del Cinquecento. Sotto il segno di Diana, in: Art e Dossier, Nr. 315, November 2014, S. 72–77; M. Zanchi, Studi e scoperte. 1. Il gesto delle corna. Magico, sacrale, scaramantico, in: Art e Dossier, Nr. 368, Januar 2016, S. 58–63; M. Zanchi, Magismo nel gesto. I segni delle corna nell’Arte, Bergamo 2016, S. 55–76).

Der junge Mann ist in einer intimen Stube eines vornehmen Hauses dargestellt, worauf der polierte bunte und geometrisch gemusterte Marmorboden hinweist, der dem Bildraum auch Tiefe verlieht. Diese Art Fußboden erscheint um 1580 auch bei Lavinias Vater Prospero und kehrt typischerweise auch auf mehreren ihrer eigenen Gemälden wieder (siehe beispielsweise Christus im Hause von Martha und Maria im Conservatorio di Santa Marta in Bologna; das Gruppenportrait der Familie Gozzadini von 1584 sowie San Francesco di Paola segnet ein Kind von 1590, beide in der Pinacoteca Nazionale di Bologna, ebenso die Heilige Familie mit dem schlafenden Jesuskind, dem Johannesknaben und der heiligen Elisabeth von 1591 im Nationalmuseum, Stockholm, eine eigenhändige Replik des Werks in der Galleria Borghese, Rom – siehe M. T. Cantaro 1989, S. 96, 117, 151, 157). Ein ähnlicher Boden taucht auch auf dem signierten und datierten Bildnis des Grafen Gentile Sassatelli von 1581 in der Sammlung Klesch in London auf.

Der Dargestellte des vorliegenden Porträts trägt ein tiefrotes, an der Brust einreihig mit eng gesetzten Knöpfen geschlossenes Wams unter einer nur am Hals zugeknöpften und ansonsten offenen schwarzen Weste; die Manschetten eines weißen Spitzenhemds ragen aus den Ärmeln hervor, um den Hals legt sich eine weiße Krause. Die passende rote Hose, aus der ein darin verborgener bestickter rosafarbener Seidenbeutel hervorlugt, reicht bis zu den Knien; er trägt rote Socken und hellbraune Lederschuhe. Am kleinen Finger der rechten Hand trägt der junge Mann einen goldenen Ring mit einem Kreuz und der Aufschrift „INRI“, dessen überlegte Zurschaustellung im Bild möglicherweise darauf hinweist, dass der Dargestellte einer weltlichen Glaubensgemeinschaft wie der Confraternità del Crocifisso del Cestello angehörte, die 1514 nach der wundersamen Erscheinung eines gemalten Kreuzes auf der Außenmauer der Kirche in der Via Cestelle am Torrente Aposa (auch genannt Avesa) in Bologna gegründet worden war. 1516 wurde an der Stelle der Sitz einer Konfraternität errichtet (siehe P. Masini, Bologna perlustrata, Bologna 1666, Bd. I, S. 301f., 455; ebenso M. Fini, Bologna sacra: tutte le chiese in due millenni di storia, Bologna 2007, S. 59). Zu ihren Gründern und Förderern gehörten Mitglieder mehrerer Bologneser Adelsfamilien, darunter u. a. die Caprai, die Accursio, die Odofredi und die Sampieri. Wenn der hier dargestellte Jüngling dieser Gemeinschaft angehörte, kamen die Auftraggeber des vorliegenden Gemäldes möglicherweise aus einer der hier aufgezählten Familien, wenn auch nichts im Bild dies bestätigen würde. Zur Konfraternität zugelassen wurde man ab dem 16. Lebensjahr.

Am 26. März 1580 wurde aufgrund einer von Gregor XIII. erlassenen päpstlichen Bulle die Compagnia del Cestello in Bologna mit der des Santissimo Crocifisso di San Marcello in Rom zusammengelegt. Die Konfraternität wurde unter Napoleon per Gesetz am 27. Juli 1798 aufgelöst, durfte sich aber 1803 neu bilden (siehe A. M. Porcu, Il Santuario e la Confraternita del SS. Crocifisso del Cestello in Bologna, Bologna 1961, insb. S. 15, 61, 65, 81).

Neben der mehr als lebensgroß dargestellten Figur des Jünglings befindet sich ein mit einem orangefarbenen Samttuch bedeckter Tisch, auf dem unterschiedliche Objekte in Reih und Glied aufgelegt sind, als sollten sie auf die Befähigungen des Dargestellten hinweisen. Es scheint sich bei ihm um einen Gelehrten der Mathematik und Ingenieurskunst zu handeln. Über die Tischkante hinaus ragt als Trompe-l’oeil ein geöffneter Zirkel, daneben steht ein großes, in Fächer unterteiltes Tintenzeug. Auch mehrere Bücher unterschiedlicher Größe sowie ein paar weiße Papierbögen und ein Lineal liegen auf dem Tisch. Schließlich findet sich darauf auch ein elegantes Behältnis für Instrumente aus emailliertem und graviertem Metall. Daraus treten die Grifflöcher einer Schere und die Griffe mehrerer weiterer metallischer Gegenstände hervor. Der Deckel des Behältnisses liegt schräg auf dem Tisch, zwei Quasten dienen dazu, es zu verschließen oder vielleicht auch um den Hals zu tragen. Kompass und Lineal wurden aus dem Behältnis herausgenommen, um sie für den Betrachter sichtbar zu machen.

Der theatralische Einsatz des Vorhangs – ein Motiv, das Lavinia ab 1589 verwendete – findet sich erstmals bei ihrer Heiligen Familie mit dem schlafenden Jesuskind und dem Johannesknaben, die für den spanischen König entstand und für das Kloster El Escorial bestimmt war, sowie bei den kleinformatigen Repliken dieses Werks. Der Vorhang kehrt in der Geburt Mariens für Santa Trinità in Bologna (1590) wieder, ebenso auf dem Porträt der Brigida Righi (1591), dem Gemälde Venus und Amor (1592) im Musée des Beaux-Arts, Rouen, und dem Porträt der Costanza Alidosi (um 1595) im National Museum of Women in the Arts, Washington. Schließlich tritt dasselbe grüne Vorhangmotiv auch auf dem Gemälde Minerva beim Ankleiden (1613) in der Galleria Borghese in Rom, dem letzten dokumentierten Werk Lavinia Fontanas, in Erscheinung, wo es dieselbe Aufgabe übernimmt wie im vorliegenden Porträt (siehe M. T. Cantaro 1989, S. 146f., 156f., 152f., 160f., 172f., 222–224).

Die nüchterne Komposition dieses Gemäldes, die den damaligen internationalen Anforderungen an die Porträtkunst an den Höfen Europas entspricht, wird durch die Einbeziehung des kleinen Hundes gebrochen, der unter dem Tisch hervorlugt. Das Tier verleiht der Szene eine fröhliche Leichtigkeit und unterbricht die kühle Strenge des Bildes; munter blickt es zu seinem jungen Herrn auf, bereit, seinen Wünschen zu folgen.

Murphy hat eine mit dem Bild in Zusammenhang stehende Zeichnung mit dem Porträt eines Jünglings im Gabinetto dei Disegni e delle Stampe in den Uffizien in Florenz entdeckt (Inv.-Nr. 12189F, schwarze Kreide und Rötel, 7,7 x 6 cm, siehe Abb. 1), von der sie glaubt, es handle sich um eine vorbereitende Studie des Gesichts des hier dargestellten jungen Mannes. Tatsächlich stimmen Gesichtsform, Nase, Augen, Mund und Ohr, die Rundung des Kinns, das kurz geschnittene Haar, die Kopfform und selbst die Blickrichtung des Dreiviertelprofils überein; dies trifft auch auf den sicheren, entschlossenen Blick des Dargestellten zu, der sich sowohl auf der Zeichnung als auch auf dem Gemälde zeigt. Nur der Kragen des Jünglings ist ein anderer, was einfach darauf zurückzuführen sein mag, dass er, als er für die Porträtskizze Modell stand, anders gekleidet war als für das repräsentative offizielle Porträt.

Laut Cantaro datiert dieses Bildnis wie auch die damit in Zusammenhang stehende Zeichnung in die frühen 1590er-Jahre. Ein weiteres auffälliges Merkmal des Porträts ist die etwas überhebliche Pose, die sich durch den gebeugten Ellenbogen und die in die Hüfte gestützte Hand ergibt – eine typisch kühne und selbstbewusste Körperhaltung, die nicht nur zum Einsatz kam, um dem Darstellten Charakter zu verleihen, sondern häufig auch als kompositorisches Mittel, um die Darstellung auszubalancieren. Lavinia Fontana setzte diesen Kunstgriff auch auf dem Porträt des Conte Gentile Sassatelli, eines Edelmanns aus Imola (signiert und datiert 1581, Öl auf Leinwand, 217,5 x 120 cm, Sotheby’s, Mailand, 14. Juni 2011, Lot 18, als Ritratto di gentiluomo in arme), ein, das 2018 von der Klesch Collection, London, bei Christie’s erworben wurde. Dort ist der Dargestellte wie auf dem vorliegenden Porträt ganzfigurig an einem Tisch stehend wiedergegeben; der Formel entsprechend, derer sich Fontana bei ihren offiziellen Porträts bediente, ist der Porträtierte in einem vergleichbaren Interieur mit derselben Art Fußboden dargestellt. In diesem Fall gibt eine geöffnete Tür den Blick auf eine Abfolge von drei Räumen frei, die mit einem Fenster abschließt. Diese Art Bildkulisse geht auf Lavinias Vater Prospero zurück und wurde von der Künstlerin vor allem in ihren früheren Werken häufig eingesetzt. Beim vorliegenden Gemälde hat sich Lavinia hingegen dazu entschlossen, diesen Bereich der Komposition durch einen Vorhang zu verbergen, und damit eine eher geschlossene, theaterhafte Kulisse gewählt.

Trotz der zahlreichen kompositorischen Gemeinsamkeiten der beiden Porträts ist Cantaro der Auffassung, dass das vorliegende Werk ungefähr zehn Jahre nach dem Bildnis Sassatellis (1581) sowie etwa acht Jahre nach dem monumentalen Gruppenporträt der Familie Gozzadini (1583) in der Pinacoteca Nazionale in Bologna entstanden ist. Letzteres war zweifellos vorbildhaft für die strenge Komposition des vorliegenden Gemäldes, das den Ansprüchen an den offiziellen Porträtstil Genüge tut. Zudem lässt das vorliegende Werk eine konzisere und in sich geschlossenere Beschreibung des Dargestellten in einem beengteren Raum erkennen, wodurch es Lavinia möglich war, verstärkt auf den Dargestellten und die Gerätschaften seiner Profession zu fokussieren.

Bis dato ist es nicht gelungen, die Identität des etwa fünfzehn- oder sechszehnjährigen jungen Gelehrten festzustellen. Zirkel, Tintenzeug und Messinstrumente verweisen jedoch auf einen angehenden Architekten. Diese Gegenstände, insbesondere der Zirkel, tauchen wiederholt auf früheren, zeitgenössischen und späteren Bildnissen von Mitgliedern dieses Berufsstands auf. Zu berühmten Beispielen zählt das Porträt eines Architekten von Lorenzo Lotto (um 1535, Gemäldegalerie, Berlin), das Porträt eines Architekten von Bernardino Licinio (1541, Royal Collection Trust, Kensington Palace, London), das Porträt des Domenico Fontana von Federico Zuccari (1585–1590, Pinacoteca Nazionale di Brera, Mailand), das Porträt des Carlo Maderno von einem unbekannten Künstler aus Bergamo (1615–1620, Museo d’Arte della Svizzera Italiana, Lugano) und das Porträt eines Architekten, bei dem es sich möglicherweise um Giuseppe Calzolari handelt, von Giuseppe Maria Crespi (1730, Pinacoteca Nazionale, Bologna).

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
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Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
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Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion mit Live Bidding
Datum: 10.11.2020 - 16:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 04.11. - 10.11.2020