Lot Nr. 239


Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino


Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino - Alte Meister

(Cento 1591–1666 Bologna)
Der heilige Johannes der Täufer in der Wildnis,
Öl auf Leinwand, 112 x 89 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich beauftragt durch Pietro Mancurti, Gouverneur von Cento (lt. Aufzeichnung in Guercinos Rechnungsbuch);
im Erbgang an die Familie Mancurti, Imola, Italien;
Privatsammlung, Großbritannien (lt. Stempel auf dem Keilrahmen: „G. Morill Liner“; George Morill war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein bekannter britischer Gemälderestaurator);
Auktion, Christie’s, London, 4. Juli 2012, Lot 206 (als Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino, zugeschrieben, mit den Maßen 121 x 89,5 cm);
dort durch den jetzigen Besitzer erworben

Vermutliche Dokumentation:
Il libro dei conti del Guercino, hg. von B. Ghelfi, Bologna 1997, S. 171, Nr. 501 („16. Decembre 1655: Dal Sig:r Governatore di Cento si e riceuto Ducatoni n:o 55. per la Meza Figura del S: Giovani, nel deserto“)

Literatur:
N. Turner, The Paintings of Guercino, Rom 2017, S. 725, Nr. 439 (als Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino, mit den Maßen 121 x 89,5 cm)

Wir danken Nicholas Turner für seine Hilfe bei der Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes.

Darüber hinaus danken wir David M. Stone, der die Zuschreibung auf Grundlage einer Fotografie bestätigt hat.

Der sorgenvolle Ausdruck des Heiligen und die düstere Atmosphäre des Raumes, in dem er steht, werden durch seinen stattlichen jugendlichen Körperbau und die Pracht seiner teils auf die Wildnis verweisenden Kleidung aufgewogen. Solche Kontraste zwischen Reinheit und Luxus kennzeichnen den Spiritualismus des Spätwerks von Guercino ab etwa 1650. Bemerkenswert ist, dass dem Täufer nicht sein übliches Attribut, ein Kreuz aus Schilfrohr, beigegeben ist. In der Ellenbeuge seines rechten Arms schwebt ein Schriftband. Indem der Heilige mit der flachen rechten Hand nach rechts deutet, scheint er den Zuschauer, den er ernst anblickt, dazu aufzufordern, sich der nahen Gegenwart Christi außerhalb des Bildes zu besinnen, auf welche die Worte des Bandes verweisen: ECCE AGNUS DEI. In diesem feinen, kleinformatigen Andachtswerk fängt Guercino die zurückhaltende Rolle des Täufers mit großer Subtilität und Tiefe ein.

Nicholas Turner ist der Meinung, dass es sich bei dem vorliegenden Gemälde wahrscheinlich um das bisher nicht aufgespürte Halbfigurenporträt „S: Giovani, nel deserto“ handelt, für das der Statthalter von Cento (der im Rechnungsbuch nicht vollständig genannt wird) den Künstler am 16. Dezember 1655 bezahlte (siehe Il libro dei conti del Guercino, hg. von B. Ghelfi, Bologna 1997, S. 171, Nr. 501). Der Statthalter von Cento war damals Pietro Mancurti, der in Imola geboren worden war. Laut Turner stimmt das Datum 1655 mit dem Stil des Bildes überein.

Typische Details der Arbeitsweise des Meisters lassen sich beispielsweise an den Händen und Armen des Heiligen, der pelzgesäumten Tunika, dem rotbraunen Umhang und der Steinbrüstung rechts unten erkennen, auf die er sich mit seinem linken Ellenbogen stützt. Auch die Variation der Dicke des Auftrags ist für Guercinos Umgang mit Farbe äußerst charakteristisch, wobei die dunklen Töne, einschließlich der Blau-, Blaugrau- und Grüntöne, dünner gemischt und oft locker mit einem breiten Pinsel aufgetragen worden sind. Das leichte Pentiment am Zeigefinger der rechten Hand des Heiligen und die Spuren von dunkelbraun-schwarzer Farbe am Himmel unmittelbar über seinem Kopf könnten darauf hindeuten, dass die Umrisse seines Haars leicht nach unten korrigiert wurden.

Guercinos späte Rötelzeichnung Nach links aufblickender Jüngling (Heiliger Johannes) in der Staatsgalerie Stuttgart, zeigt eine mit jener des vorliegenden Gemäldes identische Figur, nur spiegelbildlich und mit leichten Abweichungen in der Platzierung eines Teils der Draperie (Sammlung Schloss Fachsenfeld, Inv.-Nr. II/27; 18,9 x 14,7 cm). Der Figur der Stuttgarter Zeichnung sind keine Attribute beigegeben, sodass der Zusammenhang mit dem heiligen Johannes des zur Diskussion stehenden Werks nicht schlüssig ist, doch die Ähnlichkeit zwischen den beiden Figuren und die Nähe des Entstehungsdatums der beiden Werke aus den 1650er-Jahren ist so frappierend, dass es unverständlich wäre, die enge formale Verwandtschaft nicht anzuerkennen. Wahrscheinlich ist, dass Guercino, der schon in jungen Jahren Haltungen seiner Figuren wiederholte und das, auf sein eigenes beachtliches zeichnerisches Œuvre zurückgreifend, in seiner gesamten Laufbahn immer wieder tat, sich der Stuttgarter Zeichnung bediente, um sich in dem zu dem vorliegenden Werk führenden Schaffensprozess anregen zu lassen.

Weitere Anhaltspunkte zur Datierung des Bildes in das Jahr 1655 finden sich in der frontalen Haltung des Heiligen vor dem offenen Höhleneingang, der die Figur rahmt. Eine ehrgeizigere Variante derselben Idee findet sich in Guercinos Ganzkörperdarstellung Der heilige Johannes der Täufer predigt in der Wüste aus den Jahren 1653‒1655 in der Pinacoteca Comunale im oberitalienischen Forlì (siehe Turner 2017, S. 720, Nr. 432). Die Arbeiten an den beiden Gemälden überschnitten einander wahrscheinlich.

Auch Detailanalogien mit anderen Gemälden aus dieser späten Periode untermauern die vorgeschlagene Identifizierung und Datierung des vorliegenden Gemäldes. So lassen sich beispielsweise der linke Unterarm und die linke Hand des Täufers, dessen Ellenbogen auf einer Brüstung ruht, gut mit dem rechten Arm des Endymion im Schlafenden Endymion von 1657/1658 in der Sammlung Parlatore Melega in Bologna vergleichen (siehe Turner 2017, S. 740, Nr. 458). Derselbe linke Unterarm und dieselbe linke Hand des Täufers sind dem linken Unterarm und der linken Hand des Weinenden heiligen Petrus von 1650 in der Sammlung der Cassa di Risparmio in Bologna sehr ähnlich (siehe Turner 2017, S. 666, Nr. 376). In ähnlicher Weise findet der geöffnete Mund des Täufers, der seinen Ausdruck dermaßen belebt, dass er den Betrachter anzusprechen scheint, eine Parallele im keuchenden geöffneten Mund der Reuigen Magdalena vor dem Kreuz aus der Spätzeit Guercinos im Prado in Madrid (siehe Turner 2017, S. 654, Nr. 365I). Beachtenswert sind schließlich die seitenverkehrten Anklänge zwischen dem jugendlichen Haupt des Heiligen und dem des Halbfigurigen heiligen Johannes eines weiteren späten Werks ohne genaue Datierung in der Pinacoteca Capitolina in Rom (siehe Turner 2017, S. 691, Nr. 402).

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com

10.11.2020 - 16:00

Erzielter Preis: **
EUR 50.300,-
Schätzwert:
EUR 40.000,- bis EUR 60.000,-

Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino


(Cento 1591–1666 Bologna)
Der heilige Johannes der Täufer in der Wildnis,
Öl auf Leinwand, 112 x 89 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich beauftragt durch Pietro Mancurti, Gouverneur von Cento (lt. Aufzeichnung in Guercinos Rechnungsbuch);
im Erbgang an die Familie Mancurti, Imola, Italien;
Privatsammlung, Großbritannien (lt. Stempel auf dem Keilrahmen: „G. Morill Liner“; George Morill war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein bekannter britischer Gemälderestaurator);
Auktion, Christie’s, London, 4. Juli 2012, Lot 206 (als Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino, zugeschrieben, mit den Maßen 121 x 89,5 cm);
dort durch den jetzigen Besitzer erworben

Vermutliche Dokumentation:
Il libro dei conti del Guercino, hg. von B. Ghelfi, Bologna 1997, S. 171, Nr. 501 („16. Decembre 1655: Dal Sig:r Governatore di Cento si e riceuto Ducatoni n:o 55. per la Meza Figura del S: Giovani, nel deserto“)

Literatur:
N. Turner, The Paintings of Guercino, Rom 2017, S. 725, Nr. 439 (als Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino, mit den Maßen 121 x 89,5 cm)

Wir danken Nicholas Turner für seine Hilfe bei der Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes.

Darüber hinaus danken wir David M. Stone, der die Zuschreibung auf Grundlage einer Fotografie bestätigt hat.

Der sorgenvolle Ausdruck des Heiligen und die düstere Atmosphäre des Raumes, in dem er steht, werden durch seinen stattlichen jugendlichen Körperbau und die Pracht seiner teils auf die Wildnis verweisenden Kleidung aufgewogen. Solche Kontraste zwischen Reinheit und Luxus kennzeichnen den Spiritualismus des Spätwerks von Guercino ab etwa 1650. Bemerkenswert ist, dass dem Täufer nicht sein übliches Attribut, ein Kreuz aus Schilfrohr, beigegeben ist. In der Ellenbeuge seines rechten Arms schwebt ein Schriftband. Indem der Heilige mit der flachen rechten Hand nach rechts deutet, scheint er den Zuschauer, den er ernst anblickt, dazu aufzufordern, sich der nahen Gegenwart Christi außerhalb des Bildes zu besinnen, auf welche die Worte des Bandes verweisen: ECCE AGNUS DEI. In diesem feinen, kleinformatigen Andachtswerk fängt Guercino die zurückhaltende Rolle des Täufers mit großer Subtilität und Tiefe ein.

Nicholas Turner ist der Meinung, dass es sich bei dem vorliegenden Gemälde wahrscheinlich um das bisher nicht aufgespürte Halbfigurenporträt „S: Giovani, nel deserto“ handelt, für das der Statthalter von Cento (der im Rechnungsbuch nicht vollständig genannt wird) den Künstler am 16. Dezember 1655 bezahlte (siehe Il libro dei conti del Guercino, hg. von B. Ghelfi, Bologna 1997, S. 171, Nr. 501). Der Statthalter von Cento war damals Pietro Mancurti, der in Imola geboren worden war. Laut Turner stimmt das Datum 1655 mit dem Stil des Bildes überein.

Typische Details der Arbeitsweise des Meisters lassen sich beispielsweise an den Händen und Armen des Heiligen, der pelzgesäumten Tunika, dem rotbraunen Umhang und der Steinbrüstung rechts unten erkennen, auf die er sich mit seinem linken Ellenbogen stützt. Auch die Variation der Dicke des Auftrags ist für Guercinos Umgang mit Farbe äußerst charakteristisch, wobei die dunklen Töne, einschließlich der Blau-, Blaugrau- und Grüntöne, dünner gemischt und oft locker mit einem breiten Pinsel aufgetragen worden sind. Das leichte Pentiment am Zeigefinger der rechten Hand des Heiligen und die Spuren von dunkelbraun-schwarzer Farbe am Himmel unmittelbar über seinem Kopf könnten darauf hindeuten, dass die Umrisse seines Haars leicht nach unten korrigiert wurden.

Guercinos späte Rötelzeichnung Nach links aufblickender Jüngling (Heiliger Johannes) in der Staatsgalerie Stuttgart, zeigt eine mit jener des vorliegenden Gemäldes identische Figur, nur spiegelbildlich und mit leichten Abweichungen in der Platzierung eines Teils der Draperie (Sammlung Schloss Fachsenfeld, Inv.-Nr. II/27; 18,9 x 14,7 cm). Der Figur der Stuttgarter Zeichnung sind keine Attribute beigegeben, sodass der Zusammenhang mit dem heiligen Johannes des zur Diskussion stehenden Werks nicht schlüssig ist, doch die Ähnlichkeit zwischen den beiden Figuren und die Nähe des Entstehungsdatums der beiden Werke aus den 1650er-Jahren ist so frappierend, dass es unverständlich wäre, die enge formale Verwandtschaft nicht anzuerkennen. Wahrscheinlich ist, dass Guercino, der schon in jungen Jahren Haltungen seiner Figuren wiederholte und das, auf sein eigenes beachtliches zeichnerisches Œuvre zurückgreifend, in seiner gesamten Laufbahn immer wieder tat, sich der Stuttgarter Zeichnung bediente, um sich in dem zu dem vorliegenden Werk führenden Schaffensprozess anregen zu lassen.

Weitere Anhaltspunkte zur Datierung des Bildes in das Jahr 1655 finden sich in der frontalen Haltung des Heiligen vor dem offenen Höhleneingang, der die Figur rahmt. Eine ehrgeizigere Variante derselben Idee findet sich in Guercinos Ganzkörperdarstellung Der heilige Johannes der Täufer predigt in der Wüste aus den Jahren 1653‒1655 in der Pinacoteca Comunale im oberitalienischen Forlì (siehe Turner 2017, S. 720, Nr. 432). Die Arbeiten an den beiden Gemälden überschnitten einander wahrscheinlich.

Auch Detailanalogien mit anderen Gemälden aus dieser späten Periode untermauern die vorgeschlagene Identifizierung und Datierung des vorliegenden Gemäldes. So lassen sich beispielsweise der linke Unterarm und die linke Hand des Täufers, dessen Ellenbogen auf einer Brüstung ruht, gut mit dem rechten Arm des Endymion im Schlafenden Endymion von 1657/1658 in der Sammlung Parlatore Melega in Bologna vergleichen (siehe Turner 2017, S. 740, Nr. 458). Derselbe linke Unterarm und dieselbe linke Hand des Täufers sind dem linken Unterarm und der linken Hand des Weinenden heiligen Petrus von 1650 in der Sammlung der Cassa di Risparmio in Bologna sehr ähnlich (siehe Turner 2017, S. 666, Nr. 376). In ähnlicher Weise findet der geöffnete Mund des Täufers, der seinen Ausdruck dermaßen belebt, dass er den Betrachter anzusprechen scheint, eine Parallele im keuchenden geöffneten Mund der Reuigen Magdalena vor dem Kreuz aus der Spätzeit Guercinos im Prado in Madrid (siehe Turner 2017, S. 654, Nr. 365I). Beachtenswert sind schließlich die seitenverkehrten Anklänge zwischen dem jugendlichen Haupt des Heiligen und dem des Halbfigurigen heiligen Johannes eines weiteren späten Werks ohne genaue Datierung in der Pinacoteca Capitolina in Rom (siehe Turner 2017, S. 691, Nr. 402).

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

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Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion mit Live Bidding
Datum: 10.11.2020 - 16:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 04.11. - 10.11.2020


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer

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