Lot Nr. 256 -


Venezianische Schule, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts


Venezianische Schule, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts - Alte Meister

Männerbildnis,
Öl auf Leinwand, 75,5 x 63 cm, gerahmt

Der obere Teil des Turbans des Dargestellten ist scharlachrot: Das war die für Kopfbedeckungen der jüdischen Gemeinschaft des venezianischen Ghettos im 18. Jahrhundert verpflichtende Farbe, wie die entstandenen Darstellungen Giovanni Grevembrochs aus der Mitte des Jahrhunderts belegen (siehe G. Grevembroch, Gli abiti de’ veneziani di quasi ogni età con diligenza raccolti e dipinti nel secolo XVIII, Venedig 1981, III, S. 49/50). Wenn der Dargestellte dieser Gemeinschaft angehörte, dann war er vermutlich Teil der Sepharden. Dies lässt sich aus einem Vergleich mit den Karikaturzeichnungen von Anton Maria Zanetti di Girolamo schließen, in denen Beniamin Errera dargestellt wird. Diese Zeichnungen befinden sich heute in der britischen königlichen Sammlung und in der Fondazione Giorgio Cini in Venedig (siehe E. Lucchese, L’album di caricature di Anton Maria Zanetti alla Fondazione Giorgio Cini, Venedig 2015, S. 267/268). Diese in ihrem Stil typische orientalische Kopfbedeckung wurde in jener Zeit allerdings auch von Menschen getragen, die aus den Gebieten des Osmanischen Reichs stammten und in Venedig lebten wie die Levantiner, die man auch in zeitgenössischen Ansichten Carlevarijs’ und Canalettos sieht.

Das vorliegende Gemälde zeigt eine bestimmte Art der Darstellung, die sich im 18. Jahrhundert durch das Vorhandensein des beinahe vollständigen druckgrafischen Werks von Rembrandt in Venedig ab den frühen 1720er-Jahren zunehmender Beliebtheit erfreute. Die Sammlung befand sich im Besitz des venezianischen Künstlers, Stechers, Kunsthändlers und Connaisseurs Anton Maria Zanetti di Girolamo. Ihre Existenz ist für Rembrandts Wirkung auf die Werke Marco Riccis, Rosalba Carrieras, Giambattista Piazzettas und Giambattista Tiepolos von wesentlicher Bedeutung, um nur einige der wichtigsten Maler zu nennen, die den Einfluss des Meisters aus dem Norden aufnahmen und verarbeiteten (siehe C. Gauna, I Rembrandt di Anton Maria Zanetti e le ‚edizioni‘ di stampe a venezia: tra tecnica e stile, in: Saggi e Memorie di storia dell’arte, 36, 2012, S. 189-234).

Die realistische Wirkung des vorliegenden Werks - durch seinen frontalen Blick tritt der Dargestellte in direkten Dialog mit dem Betrachter - legt einen weiteren Umkreis für seine Entstehung nahe und verweist auf die Gebiete an den Grenzen der Lombardei und Venedigs und im Besonderen auf den Malstil Bartolomeo Nazaris (1693-1758). Auch dieser Maler aus Bergamo erlag dem Zauber der Schöpfungen Rembrandts. Diese lassen sich als Inspirationsquelle für Nazaris präzise Modellierungen, seine Bildfindungen und Darstellung stofflicher Qualitäten ausmachen. Derlei Einflüsse legen auch einen Vergleich mit Nazaris Bildnis des Giovanni Bonifacio in der Accademia dei Concordi in Rovigo nahe, das um 1735 datierbar ist.

Das Interesse an Rembrandts Poetik in Venedig belegen vor allem die neuen Bildlösungen Piazzettas und der Tiepolo-Familie: Das gilt auch für das vorliegende Gemälde, das von einem Künstler stammen muss, der dem Kreis Piazzettas stilistisch nahestand. 1750 wurde Piazzetta Direktor der neu gegründeten Accademia di Belle Arti di Venezia, und gewisse Elemente seiner Lehrtätigkeit scheinen in das vorliegende Bildnis eingegangen zu sein, und das vor allem, was die Leuchtkraft des Inkarnats und die sorgfältige Abstimmung von Licht und Schatten betrifft.

Von frühester Jugend an bemühte sich Nazari, „tradizioni e gusti differenti“ („unterschiedliche Traditionen und Arten des Geschmacks“) von Pietro Bellotti und Fra’ Galgario bis zu Alessandro Longhi und Piazzetta zu vereinen (Fisogni, Nazari, Bartolomeo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 78, Rom 2013). Deshalb waren Nazaris Gemälde inklusive seiner Genreszenen auf dem Kunstmarkt eine originelle Alternative. Pietro Monacos Stich nach Nazaris verlorenem Gemälde Elieser, Abrahams Sklave, das sich im Besitz des Malers befand (siehe: M. A. Chiari Moretto Weil, L’eredità di Piazzetta. Volti e figure nell’incisone del Settecento, Ausstellungskatalog, Venedig 1996, S. 7, Kat. 7), zeigt eine Reihe von Ähnlichkeiten mit der Figur im vorliegenden Bild und erinnert an die späten Charakterköpfe Nazaris wie jene in Dresden und Warschau (siehe F. Noris, Bartolomeo Nazari, Nazario e Giacomina Nazari, in: I Pittori Bergamaschi. Il Settecento, I, Bergamo 1982, S. 230/231, Kat. 19 und S. 235, Kat. 41).

Im vorliegenden Bildnis eines Mannes könnte man den Einfluss eines Malers aus Bergamo sehen, der zu den Gründungsmitgliedern der venezianischen Akademie zählte und 1758 unerwartet in Mailand verstarb, wohin er wegen neuer Aufträge übersiedelt war. Besser lässt sich der introspektive Geist, den das vorliegende Porträt zum Ausdruck bringt, mit den Werken Giandomenico Tiepolos vergleichen, der Themen nach dem Leben behandelte, um seine schöpferische Unabhängigkeit vom Genie seines Vaters zu betonen. Der Kopf eines Mannes aus dem Städel Museum in Frankfurt sowie die Radierung im ersten Buch der Raccolta di teste von 1774 nach dem Gemälde in der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando in Madrid lassen sich als zwei Beispiele von vielen aus Giandomenico Tiepolos Œuvre herausgreifen. Sie zeugen von den Reflexionen, die er zum Repertoire seines Vaters und Rembrandts anstellte (siehe D. Succi, La Serenissima nello specchio di rame. Splendore di una civiltà figurative del Settecento. L’opera completa dei grandi maestri veneti, II, Castelfranco Veneto 2013, S. 503/504, S. 589, Kat. 119).
Was das vorliegende Bildnis betrifft, ist es notwendig, sich die ersten Mitglieder der venezianischen Akademie und vor allem die Empfangsszenen im Palazzo Grassi anzusehen, die 1770 von Michelangelo Morlaiter als Fresken ausgeführt wurden. Diese scheinen sich als Ausgangspunkt für eine noch ausstehende wissenschaftliche Rekonstruktion einer Phase venezianischer Kunst anzubieten, die sich durch einen ähnlichen „gusto dell’osservazione non comune, già preottocentesca“ auszeichnet (siehe R. Pallucchini, La pittura veneziana del Settecento, Venedig und Rom 1960, S. 233).
Wir danken Enrico Lucchese für seine Hilfe bei der Katalogisierung des Werks.

23.10.2018 - 18:00

Schätzwert:
EUR 25.000,- bis EUR 35.000,-

Venezianische Schule, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts


Männerbildnis,
Öl auf Leinwand, 75,5 x 63 cm, gerahmt

Der obere Teil des Turbans des Dargestellten ist scharlachrot: Das war die für Kopfbedeckungen der jüdischen Gemeinschaft des venezianischen Ghettos im 18. Jahrhundert verpflichtende Farbe, wie die entstandenen Darstellungen Giovanni Grevembrochs aus der Mitte des Jahrhunderts belegen (siehe G. Grevembroch, Gli abiti de’ veneziani di quasi ogni età con diligenza raccolti e dipinti nel secolo XVIII, Venedig 1981, III, S. 49/50). Wenn der Dargestellte dieser Gemeinschaft angehörte, dann war er vermutlich Teil der Sepharden. Dies lässt sich aus einem Vergleich mit den Karikaturzeichnungen von Anton Maria Zanetti di Girolamo schließen, in denen Beniamin Errera dargestellt wird. Diese Zeichnungen befinden sich heute in der britischen königlichen Sammlung und in der Fondazione Giorgio Cini in Venedig (siehe E. Lucchese, L’album di caricature di Anton Maria Zanetti alla Fondazione Giorgio Cini, Venedig 2015, S. 267/268). Diese in ihrem Stil typische orientalische Kopfbedeckung wurde in jener Zeit allerdings auch von Menschen getragen, die aus den Gebieten des Osmanischen Reichs stammten und in Venedig lebten wie die Levantiner, die man auch in zeitgenössischen Ansichten Carlevarijs’ und Canalettos sieht.

Das vorliegende Gemälde zeigt eine bestimmte Art der Darstellung, die sich im 18. Jahrhundert durch das Vorhandensein des beinahe vollständigen druckgrafischen Werks von Rembrandt in Venedig ab den frühen 1720er-Jahren zunehmender Beliebtheit erfreute. Die Sammlung befand sich im Besitz des venezianischen Künstlers, Stechers, Kunsthändlers und Connaisseurs Anton Maria Zanetti di Girolamo. Ihre Existenz ist für Rembrandts Wirkung auf die Werke Marco Riccis, Rosalba Carrieras, Giambattista Piazzettas und Giambattista Tiepolos von wesentlicher Bedeutung, um nur einige der wichtigsten Maler zu nennen, die den Einfluss des Meisters aus dem Norden aufnahmen und verarbeiteten (siehe C. Gauna, I Rembrandt di Anton Maria Zanetti e le ‚edizioni‘ di stampe a venezia: tra tecnica e stile, in: Saggi e Memorie di storia dell’arte, 36, 2012, S. 189-234).

Die realistische Wirkung des vorliegenden Werks - durch seinen frontalen Blick tritt der Dargestellte in direkten Dialog mit dem Betrachter - legt einen weiteren Umkreis für seine Entstehung nahe und verweist auf die Gebiete an den Grenzen der Lombardei und Venedigs und im Besonderen auf den Malstil Bartolomeo Nazaris (1693-1758). Auch dieser Maler aus Bergamo erlag dem Zauber der Schöpfungen Rembrandts. Diese lassen sich als Inspirationsquelle für Nazaris präzise Modellierungen, seine Bildfindungen und Darstellung stofflicher Qualitäten ausmachen. Derlei Einflüsse legen auch einen Vergleich mit Nazaris Bildnis des Giovanni Bonifacio in der Accademia dei Concordi in Rovigo nahe, das um 1735 datierbar ist.

Das Interesse an Rembrandts Poetik in Venedig belegen vor allem die neuen Bildlösungen Piazzettas und der Tiepolo-Familie: Das gilt auch für das vorliegende Gemälde, das von einem Künstler stammen muss, der dem Kreis Piazzettas stilistisch nahestand. 1750 wurde Piazzetta Direktor der neu gegründeten Accademia di Belle Arti di Venezia, und gewisse Elemente seiner Lehrtätigkeit scheinen in das vorliegende Bildnis eingegangen zu sein, und das vor allem, was die Leuchtkraft des Inkarnats und die sorgfältige Abstimmung von Licht und Schatten betrifft.

Von frühester Jugend an bemühte sich Nazari, „tradizioni e gusti differenti“ („unterschiedliche Traditionen und Arten des Geschmacks“) von Pietro Bellotti und Fra’ Galgario bis zu Alessandro Longhi und Piazzetta zu vereinen (Fisogni, Nazari, Bartolomeo, in: Dizionario Biografico degli Italiani, 78, Rom 2013). Deshalb waren Nazaris Gemälde inklusive seiner Genreszenen auf dem Kunstmarkt eine originelle Alternative. Pietro Monacos Stich nach Nazaris verlorenem Gemälde Elieser, Abrahams Sklave, das sich im Besitz des Malers befand (siehe: M. A. Chiari Moretto Weil, L’eredità di Piazzetta. Volti e figure nell’incisone del Settecento, Ausstellungskatalog, Venedig 1996, S. 7, Kat. 7), zeigt eine Reihe von Ähnlichkeiten mit der Figur im vorliegenden Bild und erinnert an die späten Charakterköpfe Nazaris wie jene in Dresden und Warschau (siehe F. Noris, Bartolomeo Nazari, Nazario e Giacomina Nazari, in: I Pittori Bergamaschi. Il Settecento, I, Bergamo 1982, S. 230/231, Kat. 19 und S. 235, Kat. 41).

Im vorliegenden Bildnis eines Mannes könnte man den Einfluss eines Malers aus Bergamo sehen, der zu den Gründungsmitgliedern der venezianischen Akademie zählte und 1758 unerwartet in Mailand verstarb, wohin er wegen neuer Aufträge übersiedelt war. Besser lässt sich der introspektive Geist, den das vorliegende Porträt zum Ausdruck bringt, mit den Werken Giandomenico Tiepolos vergleichen, der Themen nach dem Leben behandelte, um seine schöpferische Unabhängigkeit vom Genie seines Vaters zu betonen. Der Kopf eines Mannes aus dem Städel Museum in Frankfurt sowie die Radierung im ersten Buch der Raccolta di teste von 1774 nach dem Gemälde in der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando in Madrid lassen sich als zwei Beispiele von vielen aus Giandomenico Tiepolos Œuvre herausgreifen. Sie zeugen von den Reflexionen, die er zum Repertoire seines Vaters und Rembrandts anstellte (siehe D. Succi, La Serenissima nello specchio di rame. Splendore di una civiltà figurative del Settecento. L’opera completa dei grandi maestri veneti, II, Castelfranco Veneto 2013, S. 503/504, S. 589, Kat. 119).
Was das vorliegende Bildnis betrifft, ist es notwendig, sich die ersten Mitglieder der venezianischen Akademie und vor allem die Empfangsszenen im Palazzo Grassi anzusehen, die 1770 von Michelangelo Morlaiter als Fresken ausgeführt wurden. Diese scheinen sich als Ausgangspunkt für eine noch ausstehende wissenschaftliche Rekonstruktion einer Phase venezianischer Kunst anzubieten, die sich durch einen ähnlichen „gusto dell’osservazione non comune, già preottocentesca“ auszeichnet (siehe R. Pallucchini, La pittura veneziana del Settecento, Venedig und Rom 1960, S. 233).
Wir danken Enrico Lucchese für seine Hilfe bei der Katalogisierung des Werks.


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 23.10.2018 - 18:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 13.10. - 23.10.2018