Lot Nr. 8


Girolamo Figino


Girolamo Figino - Alte Meister I

(tätig in Mailand um 1530–1570)
Kreuztragung Christi,
Öl auf Holz, 87,2 x 54,4 cm, gerahmt

Provenienz:
Sammlung Camillo Panza (lt. rückseitigem Klebezettel);
Auktion, Christie’s, New York, 29. Jänner 2015, Lot 242 (als Girolamo Figino);
europäische Privatsammlung

Wir danken Francesco Frangi, der die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung des Werks.

Die Ikonografie des das Kreuz tragenden Christus als Halbfigur vor einem schlichten dunklen Hintergrund erfreute sich in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts in Norditalien wachsender Beliebtheit (siehe S. Ringbom, Icon to Narrative, 1965, Ausgabe 1984, S. 147–155). Zu den bedeutendsten Beispielen dieser Art Umsetzung des Bildthemas gehört die Zeichnung Leonardo da Vincis aus den 1490er Jahren, die sich heute in der Galleria dell’ Accademia in Venedig befindet und die vermutlich als Studie für ein kleines Gemälde diente, für das sich bis heute keine Hinweise gefunden haben. Leonardos Einfluss auf Mailänder Maler, zu denen auch Marco d’Oggiono, Andrea Solario und Giampietrino gehörten, war weit verbreitet. Sie alle setzten das gegenständliche Andachtsthema auf ihre Weise um, doch allesamt bedienten sie sich der halbfigurigen Darstellung vor gänzlich schwarzem Hintergrund.

Das vorliegende Gemälde ist in dieser Bildtradition zu sehen, doch spiegelt sich darin zudem die stilistische Weiterführung einer von Leonardos Schaffen ausgehenden Figurenauffassung. Diese ist vor allem in der deutlich erkennbaren emailhaften Qualität und der sorgfältigen nuancierten Wiedergabe des Inkarnats zu bemerken, die an Werke von Marco d’Oggiono, Giampientrino und Cesare Magni erinnern.

Das vorliegende Gemälde fügt sich damit in den Kontext der Mailänder Nachfolge Leonardos, jedoch nicht in seinen unmittelbaren Umkreis. Das Werk entstammt einer etwas späteren Zeit, was vor allem durch die Betonung der Zeichnung und die monumentale Wiedergabe der Figur und ihres scharlachroten Mantels deutlich wird. Diese Merkmale befinden sich durchweg im Einklang mit der stilistischen Herangehensweise eines faszinierenden und erst jüngst wiederentdeckten Mailänder Malers: Girolamo Figinos (siehe insbesondere F. Frangi, Girolamo Figino ritrovato, in: Nuovi Studi, II, 1997, 3, S. 31f.; zur Zusammenfassung seiner Biografie siehe R. Sacchi, in: Pittura a Milano. Rinascimento e Manierismo, hg. von M. Gregori, Cinisello Balsamo 1999, S. 266). Figino war Mitte des 16. Jahrhunderts tätig, und obwohl Leonardos Tod weit vor seiner Schaffenszeit lag, blieb er der Sprache des Meisters treu und gestaltete seine Figuren in Übereinstimmung mit den formalen Vorgaben.

Die Figino eigenen Besonderheiten im Ausdruck treten in einer eindrucksvollen Reihe von Altarbildern hervor, die sich durch sein Schaffen zieht: von den frühen, in die 1530er Jahre zu datierenden Sacre Conversazioni in der Gemäldegalerie in Berlin und im Fogg Art Museum in Cambridge, MA bis hin zur 1559/1560 entstandenen Madonna del Velo in der Kirche Sant’Ambrogio in Mailand und der Sacra Famiglia con San Siro von 1559 in der Mailänder Kirche San Marco. Der vorliegende Christus steht vor allem den späteren dieser Werke, den beiden noch in Mailand befindlichen Altargemälden, nahe. Allen drei Werken gemeinsam ist die dunkle Tönung des Inkarnats und die durch komplexe Faltenwürfe unterstrichene größere Kompaktheit und skulpturale Qualität der Figur. Die rhythmisch angeordneten Falten scheinen ein wiederkehrendes Motiv in Girolamo Figinos bildnerischem Schaffen.

Im Zusammenhang mit Figinos stilistischer Praxis ist die kräftige rechte Hand der Gestalt Christi augenfällig, die genau in der Bildmitte platziert ist und das Kreuz stützt. Die Lösung ist höchst einzigartig und die merkwürdige Anordnung der Finger, bei der Mittel- und Ringfinger eng aneinanderliegen und kleiner Finger und Zeigefinger abstehen, außergewöhnlich: Das Motiv, das man als Stilmittel bezeichnen könnte, taucht nahezu in allen Werken des Künstlers auf, vom oben erwähnten Frühwerk in Cambridge bis hin zur späten Madonna mit Kind und den Heiligen Martha und Maria Magdalena in den Uffizien in Florenz, die für die makellos umgesetzten akademischen Interpretationen von Leonardos Bildformeln der Reifezeit des Künstlers steht.

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com

10.11.2021 - 16:00

Schätzwert:
EUR 30.000,- bis EUR 40.000,-

Girolamo Figino


(tätig in Mailand um 1530–1570)
Kreuztragung Christi,
Öl auf Holz, 87,2 x 54,4 cm, gerahmt

Provenienz:
Sammlung Camillo Panza (lt. rückseitigem Klebezettel);
Auktion, Christie’s, New York, 29. Jänner 2015, Lot 242 (als Girolamo Figino);
europäische Privatsammlung

Wir danken Francesco Frangi, der die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes bestätigt hat, für seine Hilfe bei der Katalogisierung des Werks.

Die Ikonografie des das Kreuz tragenden Christus als Halbfigur vor einem schlichten dunklen Hintergrund erfreute sich in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts in Norditalien wachsender Beliebtheit (siehe S. Ringbom, Icon to Narrative, 1965, Ausgabe 1984, S. 147–155). Zu den bedeutendsten Beispielen dieser Art Umsetzung des Bildthemas gehört die Zeichnung Leonardo da Vincis aus den 1490er Jahren, die sich heute in der Galleria dell’ Accademia in Venedig befindet und die vermutlich als Studie für ein kleines Gemälde diente, für das sich bis heute keine Hinweise gefunden haben. Leonardos Einfluss auf Mailänder Maler, zu denen auch Marco d’Oggiono, Andrea Solario und Giampietrino gehörten, war weit verbreitet. Sie alle setzten das gegenständliche Andachtsthema auf ihre Weise um, doch allesamt bedienten sie sich der halbfigurigen Darstellung vor gänzlich schwarzem Hintergrund.

Das vorliegende Gemälde ist in dieser Bildtradition zu sehen, doch spiegelt sich darin zudem die stilistische Weiterführung einer von Leonardos Schaffen ausgehenden Figurenauffassung. Diese ist vor allem in der deutlich erkennbaren emailhaften Qualität und der sorgfältigen nuancierten Wiedergabe des Inkarnats zu bemerken, die an Werke von Marco d’Oggiono, Giampientrino und Cesare Magni erinnern.

Das vorliegende Gemälde fügt sich damit in den Kontext der Mailänder Nachfolge Leonardos, jedoch nicht in seinen unmittelbaren Umkreis. Das Werk entstammt einer etwas späteren Zeit, was vor allem durch die Betonung der Zeichnung und die monumentale Wiedergabe der Figur und ihres scharlachroten Mantels deutlich wird. Diese Merkmale befinden sich durchweg im Einklang mit der stilistischen Herangehensweise eines faszinierenden und erst jüngst wiederentdeckten Mailänder Malers: Girolamo Figinos (siehe insbesondere F. Frangi, Girolamo Figino ritrovato, in: Nuovi Studi, II, 1997, 3, S. 31f.; zur Zusammenfassung seiner Biografie siehe R. Sacchi, in: Pittura a Milano. Rinascimento e Manierismo, hg. von M. Gregori, Cinisello Balsamo 1999, S. 266). Figino war Mitte des 16. Jahrhunderts tätig, und obwohl Leonardos Tod weit vor seiner Schaffenszeit lag, blieb er der Sprache des Meisters treu und gestaltete seine Figuren in Übereinstimmung mit den formalen Vorgaben.

Die Figino eigenen Besonderheiten im Ausdruck treten in einer eindrucksvollen Reihe von Altarbildern hervor, die sich durch sein Schaffen zieht: von den frühen, in die 1530er Jahre zu datierenden Sacre Conversazioni in der Gemäldegalerie in Berlin und im Fogg Art Museum in Cambridge, MA bis hin zur 1559/1560 entstandenen Madonna del Velo in der Kirche Sant’Ambrogio in Mailand und der Sacra Famiglia con San Siro von 1559 in der Mailänder Kirche San Marco. Der vorliegende Christus steht vor allem den späteren dieser Werke, den beiden noch in Mailand befindlichen Altargemälden, nahe. Allen drei Werken gemeinsam ist die dunkle Tönung des Inkarnats und die durch komplexe Faltenwürfe unterstrichene größere Kompaktheit und skulpturale Qualität der Figur. Die rhythmisch angeordneten Falten scheinen ein wiederkehrendes Motiv in Girolamo Figinos bildnerischem Schaffen.

Im Zusammenhang mit Figinos stilistischer Praxis ist die kräftige rechte Hand der Gestalt Christi augenfällig, die genau in der Bildmitte platziert ist und das Kreuz stützt. Die Lösung ist höchst einzigartig und die merkwürdige Anordnung der Finger, bei der Mittel- und Ringfinger eng aneinanderliegen und kleiner Finger und Zeigefinger abstehen, außergewöhnlich: Das Motiv, das man als Stilmittel bezeichnen könnte, taucht nahezu in allen Werken des Künstlers auf, vom oben erwähnten Frühwerk in Cambridge bis hin zur späten Madonna mit Kind und den Heiligen Martha und Maria Magdalena in den Uffizien in Florenz, die für die makellos umgesetzten akademischen Interpretationen von Leonardos Bildformeln der Reifezeit des Künstlers steht.

Experte: Mark MacDonnell Mark MacDonnell
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

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Auktion: Alte Meister I
Auktionstyp: Saalauktion mit Live Bidding
Datum: 10.11.2021 - 16:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 29.10. - 10.11.2021