Lot Nr. 107 -


Johann Heinrich Tischbein der Ältere


Johann Heinrich Tischbein der Ältere - Alte Meister I

(Haina 1722–1789 Kassel)
Halbfiguriges Porträt der Fürstin Christiane Henriette zu Waldeck und Pyrmont, geb. Prinzessin von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld (1725–1816), in einem hermelinbesetzen Umhang,
Öl auf Leinwand, 69 x 62 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich 1820 als Teil der Sammlung der verstorbenen Fürstin in Arolsen verkauft;
Familie Cosby, Stradbally Hall, Leix, Irland (lt. rückseitigen Aufklebern)

Wir danken Anna-Charlotte Flohr, die die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes bestätigt hat, für ihre Hilfe bei der Katalogisierung.

In seiner Abkehr von den Traditionen fürstlicher Ikonografie, die insbesondere angesichts des frühen Entstehungsdatums um 1765 bedeutsam erscheint, steht dieses bisher unbekannte und erst kürzlich von Anna-Charlotte Flohr wiederentdeckte Bildnis für eine klar erkennbare Verlagerung weg vom formalistischen aristokratischen Staatsporträt des Spätbarocks hin zu einer intimeren und privateren Wiedergabe. Dies betrifft den Maßstab ebenso wie das nahezu gänzliche Fehlen von Attributen der Dargestellten. Der reiche, samtige Hermelinbesatz des eleganten Umhangs und der Muff sind die einzigen Hinweise auf ihren fürstlichen Rang, während der vornehme, zart gestreifte Schleier um ihr Haupt auf ihren Witwenstand und ihre Rolle als Regentin ihres Fürstentums zu verweisen scheint.

Tischbein war bei zahlreichen Gelegenheiten für die Familie der Fürsten von Waldeck tätig gewesen. Höchstwahrscheinlich war er durch die Familie der hier Dargestellten, einer Prinzessin von Pfalz-Zweibrücken, in deren Haus eingeführt worden. Graf Stadion, ein früher Mäzen Tischbeins, unterhielt durch seinen Schwiegersohn Karl Theodor Graf von Schall-Riaucour, Geheimrat im Dienst des Kurfürsten Karl Theodor, ausgezeichnete Beziehungen zu mehreren pfälzischen Höfen. Tischbein hatte Prinzessin Christiane Henriette bereits zu einem früheren Zeitpunkt dargestellt. Ein eindrucksvolles Staatsporträt, heute im Besitz der Stiftung des Fürstlichen Hauses zu Waldeck und Pyrmont in Bad Arolsen (Öl auf Leinwand, 230 x 143 cm, datiert mit 1756), zeigt sie in der ganzen Pracht einer spätbarocken Fürstin und ist ein Beispiel für die einzigartige Verschmelzung französischer und italienischer Einflüsse, die Tischbeins Beitrag zur deutschen und europäischen Porträtmalerei zu etwas so Besonderem macht (siehe A. Flohr, Johann Heinrich Tischbein d. Ä. [1722–1789] als Porträtmaler mit einem kritischen Werkverzeichnis, München 1997, S. 190 f., Kat.-Nr. G 51). Dieses frühe Bildnis in Bad Arolsen erfreute sich bei der Dargestellten selbst und bei anderen Auftraggebern zweifellos großer Beliebtheit, zumal von der Landgräfin von Hessen-Kassel 1757 eine großformatige Replik in Auftrag gegeben wurde (Schloss Wilhelmsthal, Calden, Inv.-Nr. SM 1.1.426 1757).

Obwohl die beiden frühen Bildnisvarianten die Prinzessin in einem jüngeren Alter zeigen, wird die Identifikation der Dargestellten auf dem vorliegenden Gemälde durch das Vorhandensein eines Leberflecks auf dem linken Nasenflügel erleichtert. Keine andere in Tischbeins Oeuvre dargestellte Frauengestalt – und schon gar keine Fürstin – weist dieses physiognomische Alleinstellungsmerkmal auf. Darüber hinaus entspricht die Physiognomie der Prinzessin ihrer Darstellung im Rahmen von Tischbeins wichtigstem Auftrag als Bildnismaler für das Haus Waldeck, wo sie auf einem großformatigen Familienporträt zu sehen ist (Stiftung des Fürstlichen Hauses zu Waldeck und Pyrmont, Arolsen, Öl auf Leinwand, 230 x 143 cm). Es entstand ebenso 1756 und kann als Höhepunkt deutscher Bildnismalerei im Rokoko gelten.

Ein undatiertes Porträt von Johann Georg Ziesenis (1716–1776), das ungefähr zur selben Zeit beauftragt worden zu sein scheint wie das vorliegende, zeigt die Fürstin ebenso mit einem ihr Haar bedeckenden gestreiften weißen Schleier und beinahe identischer Physiognomie (siehe Abb. 1). Der weiße Schleier sollte zu einem charakteristischen Kleidungsstück der Fürstin werden, die nach dem Tod ihres Gemahls Fürst Karl August von Waldeck und Pyrmont (1704–1763) dem Fürstentum Waldeck von 1764 bis 1766 als Regentin vorstand, bis zur Großjährigkeit ihres ältesten Sohnes Friedrich Karl August (1743–1812). Die Farben Weiß und Hellviolett galten im 18. Jahrhundert als sich für Witwen geziemend.

Christiane Henriette, die 1741 mit Karl August die Ehe eingegangen war, galt unter ihren Zeitgenossen als in den Künsten und Wissenschaften sehr bewandert. Als enge Freundin des Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach trug sie eine umfangreiche Bibliothek zusammen, die 1788 an die 6000 Bände umfasste. Außerdem besaß sie eine Kunst- und eine naturkundliche Sammlung. Nach ihrem Tod im Jahr 1816 hinterließ Christiane Henriette einen beträchtlichen Schuldenberg, weshalb Teile ihrer Bibliothek und Kunstsammlung 1820 versteigert werden mussten. Angesichts des kleinen Formats des vorliegenden Gemäldes könnte es der nach ihrem Tod zerstreuten Privatsammlung der Fürstin angehört haben.

Der „Kasseler Tischbein“ gehört zu den begabtesten und einflussreichsten Mitgliedern dieser produktiven Künstlerfamilie. Sein Förderer Graf Stadion ermöglichte ihm ein fünfjähriges Studium in Paris, wo er ab 1743 in der Werkstatt von Charles Vanloo arbeitete. Neben Johann Christian Fiedler, Christian Bernhard Rode und Januarius Zick war Tischbein unter den ersten deutschen Künstlern, die nach Paris reisten, um dort ihre künstlerische Ausbildung zu vervollkommnen. Zwischen 1748 und 1751 hielt sich Tischbein in Italien auf, wo er mehrere Monate in Venedig weilte, Kurzbesuche in Bologna und Florenz absolvierte und zwei Jahre in Rom lebte. Nach seiner Rückkehr aus Italien empfahl Graf Stadion den Künstler an Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel, der ihn im April 1753 zum Hofmaler ernannte. Nach Wilhelms Tod war Tischbein auch unter seinem Nachfolger Friedrich II. als erster Hofmaler tätig. Der Künstler nahm 1762 seine Lehrtätigkeit im Zeichnen und in der Malerei am Collegium Carolinum auf. 1776 wurde er Professor für Malerei an der Kasseler Akademie, wo er gleichzeitig die Position des Direktors bekleidete. 1779 wurde er zum Ehrenmitglied der Accademia Clementina in Bologna ernannt. Tischbein ist der Schöpfer bedeutender Historienbilder, doch kennt man ihn heute in erster Linie ob seiner eleganten höfischen Porträts.

Experte: Dr. Alexander Strasoldo Dr. Alexander Strasoldo
+43 1 515 60 403

oldmasters@dorotheum.com

09.11.2022 - 17:00

Erzielter Preis: **
EUR 21.188,-
Schätzwert:
EUR 20.000,- bis EUR 30.000,-

Johann Heinrich Tischbein der Ältere


(Haina 1722–1789 Kassel)
Halbfiguriges Porträt der Fürstin Christiane Henriette zu Waldeck und Pyrmont, geb. Prinzessin von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld (1725–1816), in einem hermelinbesetzen Umhang,
Öl auf Leinwand, 69 x 62 cm, gerahmt

Provenienz:
vermutlich 1820 als Teil der Sammlung der verstorbenen Fürstin in Arolsen verkauft;
Familie Cosby, Stradbally Hall, Leix, Irland (lt. rückseitigen Aufklebern)

Wir danken Anna-Charlotte Flohr, die die Zuschreibung des vorliegenden Gemäldes bestätigt hat, für ihre Hilfe bei der Katalogisierung.

In seiner Abkehr von den Traditionen fürstlicher Ikonografie, die insbesondere angesichts des frühen Entstehungsdatums um 1765 bedeutsam erscheint, steht dieses bisher unbekannte und erst kürzlich von Anna-Charlotte Flohr wiederentdeckte Bildnis für eine klar erkennbare Verlagerung weg vom formalistischen aristokratischen Staatsporträt des Spätbarocks hin zu einer intimeren und privateren Wiedergabe. Dies betrifft den Maßstab ebenso wie das nahezu gänzliche Fehlen von Attributen der Dargestellten. Der reiche, samtige Hermelinbesatz des eleganten Umhangs und der Muff sind die einzigen Hinweise auf ihren fürstlichen Rang, während der vornehme, zart gestreifte Schleier um ihr Haupt auf ihren Witwenstand und ihre Rolle als Regentin ihres Fürstentums zu verweisen scheint.

Tischbein war bei zahlreichen Gelegenheiten für die Familie der Fürsten von Waldeck tätig gewesen. Höchstwahrscheinlich war er durch die Familie der hier Dargestellten, einer Prinzessin von Pfalz-Zweibrücken, in deren Haus eingeführt worden. Graf Stadion, ein früher Mäzen Tischbeins, unterhielt durch seinen Schwiegersohn Karl Theodor Graf von Schall-Riaucour, Geheimrat im Dienst des Kurfürsten Karl Theodor, ausgezeichnete Beziehungen zu mehreren pfälzischen Höfen. Tischbein hatte Prinzessin Christiane Henriette bereits zu einem früheren Zeitpunkt dargestellt. Ein eindrucksvolles Staatsporträt, heute im Besitz der Stiftung des Fürstlichen Hauses zu Waldeck und Pyrmont in Bad Arolsen (Öl auf Leinwand, 230 x 143 cm, datiert mit 1756), zeigt sie in der ganzen Pracht einer spätbarocken Fürstin und ist ein Beispiel für die einzigartige Verschmelzung französischer und italienischer Einflüsse, die Tischbeins Beitrag zur deutschen und europäischen Porträtmalerei zu etwas so Besonderem macht (siehe A. Flohr, Johann Heinrich Tischbein d. Ä. [1722–1789] als Porträtmaler mit einem kritischen Werkverzeichnis, München 1997, S. 190 f., Kat.-Nr. G 51). Dieses frühe Bildnis in Bad Arolsen erfreute sich bei der Dargestellten selbst und bei anderen Auftraggebern zweifellos großer Beliebtheit, zumal von der Landgräfin von Hessen-Kassel 1757 eine großformatige Replik in Auftrag gegeben wurde (Schloss Wilhelmsthal, Calden, Inv.-Nr. SM 1.1.426 1757).

Obwohl die beiden frühen Bildnisvarianten die Prinzessin in einem jüngeren Alter zeigen, wird die Identifikation der Dargestellten auf dem vorliegenden Gemälde durch das Vorhandensein eines Leberflecks auf dem linken Nasenflügel erleichtert. Keine andere in Tischbeins Oeuvre dargestellte Frauengestalt – und schon gar keine Fürstin – weist dieses physiognomische Alleinstellungsmerkmal auf. Darüber hinaus entspricht die Physiognomie der Prinzessin ihrer Darstellung im Rahmen von Tischbeins wichtigstem Auftrag als Bildnismaler für das Haus Waldeck, wo sie auf einem großformatigen Familienporträt zu sehen ist (Stiftung des Fürstlichen Hauses zu Waldeck und Pyrmont, Arolsen, Öl auf Leinwand, 230 x 143 cm). Es entstand ebenso 1756 und kann als Höhepunkt deutscher Bildnismalerei im Rokoko gelten.

Ein undatiertes Porträt von Johann Georg Ziesenis (1716–1776), das ungefähr zur selben Zeit beauftragt worden zu sein scheint wie das vorliegende, zeigt die Fürstin ebenso mit einem ihr Haar bedeckenden gestreiften weißen Schleier und beinahe identischer Physiognomie (siehe Abb. 1). Der weiße Schleier sollte zu einem charakteristischen Kleidungsstück der Fürstin werden, die nach dem Tod ihres Gemahls Fürst Karl August von Waldeck und Pyrmont (1704–1763) dem Fürstentum Waldeck von 1764 bis 1766 als Regentin vorstand, bis zur Großjährigkeit ihres ältesten Sohnes Friedrich Karl August (1743–1812). Die Farben Weiß und Hellviolett galten im 18. Jahrhundert als sich für Witwen geziemend.

Christiane Henriette, die 1741 mit Karl August die Ehe eingegangen war, galt unter ihren Zeitgenossen als in den Künsten und Wissenschaften sehr bewandert. Als enge Freundin des Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach trug sie eine umfangreiche Bibliothek zusammen, die 1788 an die 6000 Bände umfasste. Außerdem besaß sie eine Kunst- und eine naturkundliche Sammlung. Nach ihrem Tod im Jahr 1816 hinterließ Christiane Henriette einen beträchtlichen Schuldenberg, weshalb Teile ihrer Bibliothek und Kunstsammlung 1820 versteigert werden mussten. Angesichts des kleinen Formats des vorliegenden Gemäldes könnte es der nach ihrem Tod zerstreuten Privatsammlung der Fürstin angehört haben.

Der „Kasseler Tischbein“ gehört zu den begabtesten und einflussreichsten Mitgliedern dieser produktiven Künstlerfamilie. Sein Förderer Graf Stadion ermöglichte ihm ein fünfjähriges Studium in Paris, wo er ab 1743 in der Werkstatt von Charles Vanloo arbeitete. Neben Johann Christian Fiedler, Christian Bernhard Rode und Januarius Zick war Tischbein unter den ersten deutschen Künstlern, die nach Paris reisten, um dort ihre künstlerische Ausbildung zu vervollkommnen. Zwischen 1748 und 1751 hielt sich Tischbein in Italien auf, wo er mehrere Monate in Venedig weilte, Kurzbesuche in Bologna und Florenz absolvierte und zwei Jahre in Rom lebte. Nach seiner Rückkehr aus Italien empfahl Graf Stadion den Künstler an Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel, der ihn im April 1753 zum Hofmaler ernannte. Nach Wilhelms Tod war Tischbein auch unter seinem Nachfolger Friedrich II. als erster Hofmaler tätig. Der Künstler nahm 1762 seine Lehrtätigkeit im Zeichnen und in der Malerei am Collegium Carolinum auf. 1776 wurde er Professor für Malerei an der Kasseler Akademie, wo er gleichzeitig die Position des Direktors bekleidete. 1779 wurde er zum Ehrenmitglied der Accademia Clementina in Bologna ernannt. Tischbein ist der Schöpfer bedeutender Historienbilder, doch kennt man ihn heute in erster Linie ob seiner eleganten höfischen Porträts.

Experte: Dr. Alexander Strasoldo Dr. Alexander Strasoldo
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Auktion: Alte Meister I
Auktionstyp: Saalauktion mit Live Bidding
Datum: 09.11.2022 - 17:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 22.10. - 09.11.2022


** Kaufpreis inkl. Käufergebühr und Mehrwertsteuer(für Lieferland Österreich)

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