Lot Nr. 196 -


Alvise Vivarini


Alvise Vivarini - Alte Meister

(Venedig 1442/53–1503/05) 
Madonna mit Kind, 
Tempera und Öl auf Holz, 56,5 x 40,7 cm, gerahmt 

Provenienz:
Sammlung Hans Meyer, Zürich, vor 1891; 
Sammlung Jost Meyer-am-Rhyn (1853–1898), Luzern; 
Privatsammlung, Schweiz

Wir danken Filippo Todini für die vorgeschlagene Zuschreibung und seine Hilfe bei der Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes. 

Die Madonna ist als Halbfigur in einem Interieur hinter einem marmornen Sims dargestellt; sie umarmt das auf einem prächtig geschmückten, mit Goldborte und Quasten eingefassten Samtkissen sitzende Kind. Die Figuren heben sich stark von dem im Schatten liegenden Hintergrund mit einem links befindlichen Bogenfenster ab, das den Blick auf eine Landschaft freigibt. Das vorliegende Gemälde wurde höchstwahrscheinlich für einen privaten Auftraggeber ausgeführt. 

Das vorliegende Gemälde war der Forschung offenbar bisher unbekannt und ist eine wichtige Hinzufügung zum Oeuvre des Künstlers. Es datiert aus der frühen Reifezeit Vivarinis, kurz nach 1480, als der Künstler die von Vorbildern wie Squarcione und dem jungen Mantegna herrührende Prägung während seiner ersten Ausbildung in der Werkstatt seines Vaters Antonio und seines Onkels Bartolomeo hinter sich ließ. Er fand zu einem unabhängigen und originären Stil, der nun ganz der Manier der Renaissance verpflichtet war. Damit stellt er sich als einer der wichtigsten Interpreten der venezianischen Malerei der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts neben Giovanni Bellini. 

In den Figuren der Madonna und des Kindes gibt es augenfällige Gemeinsamkeiten in Pinselführung und Typus mit dem großen signierten und mit 1480 datierten Altarbild Thronende Madonna mit Kind und Heiligen für San Francesco in Treviso, das sich heute in den Gallerie dell’Accademia in Venedig befindet (Nr. 607). In dem Altarbild geht die grafische Definition der Konturen und Faltenwürfe mit einem betont plastischen Relief einher. Es ist damit das erste Zeugnis von Alvise Vivarinis Interesse am Einfluss Antonello da Messinas auf die venezianische Malerei (siehe R. Pallucchini, I Vivarini, Venedig 1962, S. 59/60; J. Steer, Alvise Vivarini: His Art and Influence, Cambridge 1982, S. 24ff.). Die Anlage der Komposition kehrt variiert in anderen Gemälden aus dieser Zeit wieder, etwa in der Mitteltafel eines signierten und mit 1485 datierten Triptychons in der Pinacoteca Nazionale di Capodimonte in Neapel sowie in der Madonna mit Kind (Nr. 649) in der Galleria Nazionale delle Marche, Urbino. Dort finden sich eine Tendenz zu direkt von Antonello da Messina übernommenen geometrischen Formen und ein zeitlich mit der damaligen stilistischen Entwicklung Bellinis zusammenfallendes Streben nach klassischer Regelmäßigkeit in der Zeichnung. Ebenso typisch für Alvise ist die technische Ausführung: Die Figuren wurden auf der Tafel durch Einritzung der Umrisse vorbereitet, die sorgfältige Zeichnung der Details erfolgte mit einem Griffel, was unter den Malschichten noch erkennbar ist. 

Am nächsten steht das vorliegende Gemälde jedoch dem signierten und mit 1483 datierten Altarbild mit einer Thronenden Madonna mit Kind in Sant’Andrea in Barletta (siehe J. Steer, op. cit., S. 34; C. Gelao, I Vivarini. Lo Splendore della Pittura tra Gotico e Rinascimento, Ausstellungskatalog, Venedig 2016, S. 150/151), in dem die Einflussnahme von Antonellos Vorbild auf Alvise ihren Höhepunkt erreicht hat. Die monumentale Blockhaftigkeit der Volumen, die in manchen Bereichen nahezu wie geometrische Körper anmuten, entspricht praktisch exakt jener Antonellos. Dasselbe gilt für das die kompakt aufgetragenen Farben erwärmende Licht, die äußere Modellierung mittels kräftiger, fließender Linien, die Darstellung der Faltenwürfe und die Figurentypen. Auch auf das mit Goldborte und Quasten besetzte grüne Kissen ist hinzuweisen – ein direktes Zitat aus Antonellos berühmter Benson Madonna in der National Gallery in Washington, von der Vivarini sich vielleicht auch bei der Dreiviertelansicht des Kopfes der Heiligen Jungfrau anregen ließ. 

Die Physiognomie des Kindes, dessen in Pläne aufgeteiltes Gesicht nahezu einer prismatischen Zerlegung gleichkommt und damit die räumliche Auffassung unterstreicht, wurde direkt aus dem Mittelteil des Altargemäldes für San Cassiano in Venedig übernommen (heute im Kunsthistorischen Museum, Wien). Dem vorliegenden Werk kommt somit dokumentarische Bedeutung zu, zumal es jene Periode veranschaulicht, in der Alvise Vivarini am stärksten unter dem Eindruck Antonello da Messinas stand. Man kann behaupten, dass es in dieser Hinsicht von weit größerer Bedeutung ist als die Madonnen im Walters Art Museum in Baltimore (Nr. 37,535) und in der Sammlung des Conte Cesare Piovene in Vicenza (Pallucchini, op. cit., S. 58), die bisher als die besten Werke des Künstlers aus dieser Zeit galten. 

Eine weitere bemerkenswerte Besonderheit ist die ungewöhnliche Idee des verkürzten Fensterbretts, welches die Räumlichkeit und Tiefenwirkung zusätzlich betont. Dasselbe Motiv findet sich, wenn auch weniger ausgeprägt und prominent, in mehreren Werken Giovanni Bellinis oder seiner Werkstatt (London, National Gallery, NG 3913; Paris, Louvre, MI 23; Castle Ashby, Marquess of Northampton). Später sollte es auch von Jacopo da Valenza für einige seiner repetitiven Variationen nach Werken Alvises übernommen werden (Rovigo, Accademia dei Concordi; Treviso, Museo Civico; Venedig, Santa Maria della Salute usw.). 

In der Fototeca Federico Zeri (Nr. 25253, 0284, Inv. 62292) findet sich unter dem Namen Alvise Vivarini die Fotografie eines Bildes einer Madonna mit Kind vor dunklem Hintergrund. Das aus London kommende Bild befand sich 1961 im Besitz der Galleria Salocchi in Florenz und der Galleria Sestieri in Rom. Es handelt sich um eine getreue, wenn auch leicht abgewandelte Wiederholung des vorliegenden Gemäldes, die jedoch von geringerer Qualität ist.

24.04.2018 - 17:00

Schätzwert:
EUR 30.000,- bis EUR 40.000,-

Alvise Vivarini


(Venedig 1442/53–1503/05) 
Madonna mit Kind, 
Tempera und Öl auf Holz, 56,5 x 40,7 cm, gerahmt 

Provenienz:
Sammlung Hans Meyer, Zürich, vor 1891; 
Sammlung Jost Meyer-am-Rhyn (1853–1898), Luzern; 
Privatsammlung, Schweiz

Wir danken Filippo Todini für die vorgeschlagene Zuschreibung und seine Hilfe bei der Katalogisierung des vorliegenden Gemäldes. 

Die Madonna ist als Halbfigur in einem Interieur hinter einem marmornen Sims dargestellt; sie umarmt das auf einem prächtig geschmückten, mit Goldborte und Quasten eingefassten Samtkissen sitzende Kind. Die Figuren heben sich stark von dem im Schatten liegenden Hintergrund mit einem links befindlichen Bogenfenster ab, das den Blick auf eine Landschaft freigibt. Das vorliegende Gemälde wurde höchstwahrscheinlich für einen privaten Auftraggeber ausgeführt. 

Das vorliegende Gemälde war der Forschung offenbar bisher unbekannt und ist eine wichtige Hinzufügung zum Oeuvre des Künstlers. Es datiert aus der frühen Reifezeit Vivarinis, kurz nach 1480, als der Künstler die von Vorbildern wie Squarcione und dem jungen Mantegna herrührende Prägung während seiner ersten Ausbildung in der Werkstatt seines Vaters Antonio und seines Onkels Bartolomeo hinter sich ließ. Er fand zu einem unabhängigen und originären Stil, der nun ganz der Manier der Renaissance verpflichtet war. Damit stellt er sich als einer der wichtigsten Interpreten der venezianischen Malerei der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts neben Giovanni Bellini. 

In den Figuren der Madonna und des Kindes gibt es augenfällige Gemeinsamkeiten in Pinselführung und Typus mit dem großen signierten und mit 1480 datierten Altarbild Thronende Madonna mit Kind und Heiligen für San Francesco in Treviso, das sich heute in den Gallerie dell’Accademia in Venedig befindet (Nr. 607). In dem Altarbild geht die grafische Definition der Konturen und Faltenwürfe mit einem betont plastischen Relief einher. Es ist damit das erste Zeugnis von Alvise Vivarinis Interesse am Einfluss Antonello da Messinas auf die venezianische Malerei (siehe R. Pallucchini, I Vivarini, Venedig 1962, S. 59/60; J. Steer, Alvise Vivarini: His Art and Influence, Cambridge 1982, S. 24ff.). Die Anlage der Komposition kehrt variiert in anderen Gemälden aus dieser Zeit wieder, etwa in der Mitteltafel eines signierten und mit 1485 datierten Triptychons in der Pinacoteca Nazionale di Capodimonte in Neapel sowie in der Madonna mit Kind (Nr. 649) in der Galleria Nazionale delle Marche, Urbino. Dort finden sich eine Tendenz zu direkt von Antonello da Messina übernommenen geometrischen Formen und ein zeitlich mit der damaligen stilistischen Entwicklung Bellinis zusammenfallendes Streben nach klassischer Regelmäßigkeit in der Zeichnung. Ebenso typisch für Alvise ist die technische Ausführung: Die Figuren wurden auf der Tafel durch Einritzung der Umrisse vorbereitet, die sorgfältige Zeichnung der Details erfolgte mit einem Griffel, was unter den Malschichten noch erkennbar ist. 

Am nächsten steht das vorliegende Gemälde jedoch dem signierten und mit 1483 datierten Altarbild mit einer Thronenden Madonna mit Kind in Sant’Andrea in Barletta (siehe J. Steer, op. cit., S. 34; C. Gelao, I Vivarini. Lo Splendore della Pittura tra Gotico e Rinascimento, Ausstellungskatalog, Venedig 2016, S. 150/151), in dem die Einflussnahme von Antonellos Vorbild auf Alvise ihren Höhepunkt erreicht hat. Die monumentale Blockhaftigkeit der Volumen, die in manchen Bereichen nahezu wie geometrische Körper anmuten, entspricht praktisch exakt jener Antonellos. Dasselbe gilt für das die kompakt aufgetragenen Farben erwärmende Licht, die äußere Modellierung mittels kräftiger, fließender Linien, die Darstellung der Faltenwürfe und die Figurentypen. Auch auf das mit Goldborte und Quasten besetzte grüne Kissen ist hinzuweisen – ein direktes Zitat aus Antonellos berühmter Benson Madonna in der National Gallery in Washington, von der Vivarini sich vielleicht auch bei der Dreiviertelansicht des Kopfes der Heiligen Jungfrau anregen ließ. 

Die Physiognomie des Kindes, dessen in Pläne aufgeteiltes Gesicht nahezu einer prismatischen Zerlegung gleichkommt und damit die räumliche Auffassung unterstreicht, wurde direkt aus dem Mittelteil des Altargemäldes für San Cassiano in Venedig übernommen (heute im Kunsthistorischen Museum, Wien). Dem vorliegenden Werk kommt somit dokumentarische Bedeutung zu, zumal es jene Periode veranschaulicht, in der Alvise Vivarini am stärksten unter dem Eindruck Antonello da Messinas stand. Man kann behaupten, dass es in dieser Hinsicht von weit größerer Bedeutung ist als die Madonnen im Walters Art Museum in Baltimore (Nr. 37,535) und in der Sammlung des Conte Cesare Piovene in Vicenza (Pallucchini, op. cit., S. 58), die bisher als die besten Werke des Künstlers aus dieser Zeit galten. 

Eine weitere bemerkenswerte Besonderheit ist die ungewöhnliche Idee des verkürzten Fensterbretts, welches die Räumlichkeit und Tiefenwirkung zusätzlich betont. Dasselbe Motiv findet sich, wenn auch weniger ausgeprägt und prominent, in mehreren Werken Giovanni Bellinis oder seiner Werkstatt (London, National Gallery, NG 3913; Paris, Louvre, MI 23; Castle Ashby, Marquess of Northampton). Später sollte es auch von Jacopo da Valenza für einige seiner repetitiven Variationen nach Werken Alvises übernommen werden (Rovigo, Accademia dei Concordi; Treviso, Museo Civico; Venedig, Santa Maria della Salute usw.). 

In der Fototeca Federico Zeri (Nr. 25253, 0284, Inv. 62292) findet sich unter dem Namen Alvise Vivarini die Fotografie eines Bildes einer Madonna mit Kind vor dunklem Hintergrund. Das aus London kommende Bild befand sich 1961 im Besitz der Galleria Salocchi in Florenz und der Galleria Sestieri in Rom. Es handelt sich um eine getreue, wenn auch leicht abgewandelte Wiederholung des vorliegenden Gemäldes, die jedoch von geringerer Qualität ist.


Käufer Hotline Mo.-Fr.: 10.00 - 17.00
old.masters@dorotheum.at

+43 1 515 60 403
Auktion: Alte Meister
Auktionstyp: Saalauktion
Datum: 24.04.2018 - 17:00
Auktionsort: Wien | Palais Dorotheum
Besichtigung: 14.04. - 24.04.2018